Jasper Barenberg: Zehntausende Soldaten sind in Afghanistan heute im Einsatz, um die Präsidentschaftswahlen zu schützen – und doch gibt es bereits Berichte über Anschläge und auch über Tote. Die radikal-islamischen Taliban hatten schon angekündigt, die Wahlen anzugreifen, die Extremisten kontrollieren außerdem inzwischen mehr Territorium als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt seit ihrem Sturz 2001. Zweimal wurden die Wahlen deshalb bereits verschoben. Mitgehört hat der frühere Diplomat und Autor Norbert Heinrich Holl, Ende der 90er-Jahre als erster Deutscher an der Spitze einer Sonderkommission der Vereinten Nationen für Afghanistan. Schönen guten Tag, Herr Holl!
Norbert Heinrich Holl: Guten Tag!
Barenberg: Herr Holl, Sie haben ja vor 20 Jahren schon erlebt, wie intensive Verhandlungen mit den Taliban und anderen Kriegsparteien in Afghanistan gescheitert sind. Jetzt sind nach Monaten, ich habe es erwähnt, die Gespräche zwischen den USA und den Taliban abgebrochen worden. In welcher Lage befindet sich in Ihren Augen das Land derzeit?
Holl: Zunächst mal gratuliere ich zu dem
ausgezeichneten Kommentar, der eben gesendet wurde
(Audio), der im Grunde genommen alle Problempunkte benennt. Wir müssen uns als westliche Beobachter davor hüten, in Afghanistan einen normal funktionierenden Staat zu sehen, wo also heute zufällig gewählt wird, es gibt zwei Spitzenkandidaten und es gibt dann eine Stichwahl. Das klingt alles sehr demokratisch, sehr vertraut, aber dabei wird unterschlagen – und das hat eben Ihr Kommentator doch deutlich erwähnt –, dass im Grunde genommen Afghanistan ein Staat sui generis ist, der sich in den letzten 200 Jahren sehr wenig verändert hat. Auch die heutigen Akteure sind die Akteure, die ich vor 20 Jahren gekannt habe beziehungsweise, sofern sie ermordet worden sind, ihre Nachfolger.
Das entscheidende Moment in Afghanistan ist die Ethnie – also die Frage, bist du Paschtune, bist du Tadschike, bist du Usbeke. Du hast im Grunde genommen - also der Politiker hat im Grunde genommen nur eine Chance, das Land zu führen, wenn er Paschtune ist. Und mit dieser Paschtunenkarte spielen natürlich erst recht die Taliban, die erst gar keine andere Ethnie in ihre Reihen lassen, sie ist eine reine Paschtunenvertretung, während ein Mann wie Abdullah Abdullah, der also jetzt als einer der beiden Spitzenkandidaten genannt wird, also das Handicap hat, dass er entweder entgegen seiner Beteuerung kein Paschtune, sondern tatsächlich Tadschike ist, und jedenfalls mit dem berühmten Ahmad Schah Massud, der ja eben auch erwähnt wurde, zusammengearbeitet hat. Also Abdullah, wenn Sie einen Afghanen fragen, der wird Ihnen spontan sagen, der Mann ist Tadschike. Und damit ist die Wahl im Grunde genommen schon verloren.
Egal, was passiert, ein Tadschike wird in Afghanistan nie eine Wahl gewinnen. Es gibt in Afghanistan auch gar keine Parteien, wie wir das hier in westlichen Demokratien kennen, sondern es kommt immer noch auf die Loyalität mit einer ethnischen Gruppe an.
"Es ist eben ein Regime, was nur im Schutz seiner Armee überhaupt funktioniert"
Barenberg: Herr Holl, wenn ich Sie da unterbrechen darf, der frühere Außenminister Spanta war ja heute hier im Interview und er hat im Grunde genommen sehr klipp und klar gesagt, Demokratie in Afghanistan ist gescheitert. Sie haben gerade gesagt, man darf nicht unseren Maßstab anlegen. Muss man aber trotzdem so klipp und klar sagen, das ist im Moment der Stand der Dinge, so etwas wie Demokratie kann es unter den Voraussetzungen, über die sie gesprochen haben, derzeit in Afghanistan auch gar nicht geben.
Holl: Also ich habe mich eben gescheut, es so hart auszudrücken, aber ich bin überzeugt, dass alle Friedensbemühungen, auf die wir uns immer wieder berufen, also zuletzt die Verhandlungen mit den Amerikanern unter Trump, die meines Erachtens rein durch die Präsidentschaftswahlen in den USA motiviert waren, aber nie mit Aussicht auf Erfolg geführt wurden. Es hat bei früheren amerikanischen Präsidenten immer wieder Versuche gegeben, mit den Taliban in irgendeiner Weise ins Geschäft zu kommen. Und natürlich hat auch Hamid Karzai, der frühere Präsident, immer wieder versucht – formal versucht –, mit den Taliban ins Geschäft zu kommen, aber ich glaube, er war Realist genug, um zu wissen, dass diese Verhandlungen keine Chancen haben.
Wenn Ihr Gesprächspartner das so hart ausdrückt, ich würde ihm nicht widersprechen. Spanta ist ein Mann, der natürlich als Afghane das Land gut kennt und auch Deutschland gut kennt, er kennt beide Systeme, er kennt das archaische System in Afghanistan und natürlich das moderne, das demokratische System im Westen. Und er kann mit gutem Grund diese Behauptung aufstellen, dass der Versuch, das Experiment, in Afghanistan ein demokratisches System zu etablieren, nur – wie soll ich sagen – in einer dünnen Schicht gelungen ist, nämlich in den Leuten, die jetzt in Kabul die Regierung stellen, die den Präsidenten stellen. Aber es ist eben ein Regime, was nur im Schutz seiner Armee überhaupt funktioniert, wobei noch sehr die Frage ist, was passiert mit der afghanischen Armee in dem Augenblick, wo die Amerikaner und die üblichen westlichen Verbündeten, nicht zuletzt auch die deutschen Berater, sich aus diesem Land zurückziehen. Meines Erachtens bricht dann das ganze System zusammen, um mal ganz schroff zu formulieren.
"Die Taliban denken nicht methodisch wie Demokratien"
Barenberg: Und Herr Holl, wenn es richtig ist, dass eine Übereinkunft mit den Taliban eigentlich zwingend ist, um so etwas zu erreichen wie Stabilität, wenn auch nicht Demokratie, wie Sie ja gerade argumentiert haben. Was kann dann eine solche Einigung herbeiführen, wie könnte die aussehen?
Holl: Ich möchte es noch mal schärfer formulieren: Es wird eine Einigung nicht geben. Die Taliban denken nicht methodisch wie westliche Demokratien, sie haben alleine ein Ziel, das ist die Alleinherrschaft. Es interessiert sie gar nicht, ob die Amerikaner oder westliche Regierungen aus irgendwelchen Gründen immer wieder mit Initiativen kommen. Sie werden da vielleicht mitmachen, wenn sie sich davon taktische Vorteile versprechen, aber ich bin überzeugt, es wird in absehbarer Zeit keine Einigung mit Taliban geben. Da können wir also noch so viele Schlagzeilen produzieren und noch so viele politische Hoffnungen entwickeln. Die Taliban denken anders, sie wollen den Totalanspruch, sie wollen die Alleinherrschaft.
Genauso wenig, wie sie einen Moslem – und die paschtunische Bewegung ist eben eine sunnitische Bewegung –, sie können die nicht überzeugen, ja, einigt euch doch mit den Schiiten und macht irgendwie so eine Mischreligion zwischen Sunniten und Schiiten. Das funktioniert nicht, genauso wenig wird es funktionieren, mit sogenannten Verhandlungen zwischen Taliban und westlichen Demokratien.
Ich sage das deswegen so schroff, weil ich vor 20 Jahren anders gedacht habe, ich habe vor 20 Jahren tatsächlich gehofft, es ließe sich aus diesem Experiment etwas machen. Aber vergessen Sie nicht, hin und wieder ist auch der Blick in die Geschichte von Interesse: Die Briten haben drei Kriege gegen Afghanistan geführt, die Russen haben es versucht, dann haben es die Amerikaner versucht. Im Grunde genommen sind alle gescheitert mit dem Versuch, ein irgendwie westlich organisiertes System in Afghanistan zu etablieren.
Die Widerstandskräfte der Ethnien sind im Augenblick noch dermaßen stark, vielleicht ändert sich das in 50 Jahren, ich weiß es nicht. Aber ich hatte in meiner Zeit in Afghanistan einen sehr klugen Gesprächspartner, das war Brahimi, der ja auch für die Vereinten Nationen in Afghanistan gearbeitet hatte und schon vorher in vielen anderen Krisenländern als Vermittler erfolgreich gearbeitet hatte. Er sagte einmal zu mir: Afghanistan – am besten baut man einen Cordon sanitaire um dieses Land und überlässt es seinem eigenen Schicksal.
Barenberg: Ich bedanke mich, Herr Holl!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.