Welter: Hélène Miard-Delacroix, Sie sind Französin, Historikerin, Politikwissenschaftlerin, Professorin für deutsche Zeitgeschichte an der Sorbonne in Paris. Sie sind in der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, sind Brandt-Biografin, Trägerin des Bundesverdienstkreuzes.
Sie kennen also Deutschland und die deutsche Politik sehr gut. Bevor wir gleich in diesem Interview der Woche aber über deutsch-französische Fragen sprechen, geht es natürlich an diesem Tag um die Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Emmanuel Macron und Marine Le Pen sind in diesen zweiten Wahlgang gekommen. Kann man das aus Ihrer Sicht als ein Duell der Außenseiter bezeichnen?
Miard-Delacroix:Ja, das ist ganz erstaunlich, was in diesem Jahr und bei dieser Wahl passiert ist. Damit hätte man vor fünf Jahren nicht gerechnet. Es war klar, dass das französische Parteiensystem in einer gewissen Krise war, aber dass nach dem ersten Wahlgang in die Stichwahl zwei Kandidaten kommen, die entweder nicht einer festen Partei angehören, wie Emmanuel Macron, der nur eine Bewegung gegründet hatte ein Jahr davor oder aus der Rechtsextremen kommt. Das ist noch nie gesehen und fast unerhört.
"Ein Phänomen, das wahrscheinlich in die Geschichtsbücher eingehen wird"
Welter: Ja und das war die Abwahl der etablierten Parteien, also der Parteien, die die Fünfte Republik maßgeblich geprägt haben.
Miard-Delacroix: Ja und das hat, glaube ich, etwas zu tun, zum einen mit einer allgemeinen Tendenz in Europa, in allen unterschiedlichen Ländern in Europa, in Deutschland vielleicht weniger, mit dem Aufkommen von populistischen Strömungen, von auch also Randerscheinungen und einem, sagen wir mal, Gewichtsverlust der älteren Parteien. Das hat aber auch etwas zu tun mit einem sehr französischen Entwicklungsprozess. Ich würde sagen, dass dieser Auflösungsprozess des parteipolitischen Systems ist in Frankreich in vollem Gange. Das hat zum Teil etwas mittelfristige Gründe, wie beispielsweise für das linke Lager so späte Folgen von dem Ende der Sowjetunion und damit des Kommunismus als Angebot auch für Franzosen.
Sodass das linke Lager sich allmählich zerbröckelte und wo die Parti Socialiste, von der man nicht vergessen darf, dass sie erst 1971 gegründet wurde, dass sie dann in ihre unterschiedlichen Flügel sich auflöste. Und in Frankreich stellte sich jetzt plötzlich quasi brutal die Frage von der Existenz einer Sozialdemokratie nach deutschem Modell. Und das war bisher in der französischen Parti Socialiste nicht möglich, sich so zu formieren.
Und im Endeffekt ist das, was der Parti Socialiste passiert ist – ja – ein Phänomen, das wahrscheinlich in die Geschichtsbücher eingehen wird. Man wird wahrscheinlich keine Parti Socialiste haben später, wie sie es gewesen ist. Nun eher wahrscheinlich eine größere Partei in der Mitte, die sozialdemokratisch, aber sozialliberal ist und eher links davon eine wirklich linke Partei, die Jean-Luc Mélenchon sehr gerne führen möchte.
Welter: Also, Sie gehen davon aus, dass es zwei neue Parteien auf der Linken geben wird mittelfristig in Frankreich?
Miard-Delacroix: Ich weiß nicht so ganz, ob die neue Partei, die mit Emmanuel Macron entstehen wird, um ihn herum wirklich links anzusiedeln ist. Höchstwahrscheinlich wird links eine Protestpartei entstehen, die viel linker steht als die jetzige Parti Socialiste, also um Jean-Luc Mélenchon mit diesen "Insoumise", also mit denjenigen, die sich nicht unterwerfen wollen, also wirklich sehr protestorientiert, antiliberal und zum Teil antieuropäisch.
Und in der Mitte aber dann haben wir ein Problem mit der französischen Verfassung, Mitte links, Mitte rechts könnte eine Gruppe entstehen von Parlamentariern – das werden wir in den kommenden Wochen sehen –, die, wenn es sie gibt, tatsächlich den Sieg von Emmanuel Macron dann unterstützen kann in der Verwandlung seines Programms in eine wirkliche Politik. Ob diese Gruppe wirklich links steht, das ist fraglich.
"Ein Auflösungsprozess von den Parteien, die die Fünfte Republik mitgetragen haben"
Welter: Steckt hinter all dem, was Sie auch schildern – und das betrifft ja nicht nur die sozialistische Partei, sondern auch die Partei der Republikaner, die auf eine andere Art und Weise auch gespalten ist. Steckt hinter all dem, was jetzt geschehen ist im ersten Wahlgang auch ein tiefsitzender Wunsch nach Erneuerung? Das sagen viele Kommentatoren hier in Frankreich.
Miard-Delacroix: Das ist, glaube ich, eindeutig. Und das ist also die zweite Komponente von diesem Prozess, den ich beschrieben habe, dieser Auflösungsprozess quasi von den Parteien, die die Fünfte Republik mitgetragen haben. Was mit den Konservativen passiert ist, ist auch eine große Überraschung, denn vor sechs Monaten etwa, so im November, hat man damit gerechnet, dass derjenige Kandidat, der in der Vorwahl dann die Gunst der Wähler hatte, fast hundertprozentig die größten Chancen hatte zum Staatspräsidenten zu werden. Und da sich herausstellte, dass gerade er, der sich für den ganz besonders sauberen, redlichen und katholischen Kandidaten präsentierte, dass gerade er Staatsgelder für die eigene Familie irgendwie gestohlen hat – so wurde es wahrgenommen.
Wahrscheinlich war es der Tropfen zu viel in diesem Misstrauen, dass viele Franzosen mit den Parteien, von denen sie den Eindruck haben, dass es Einrichtungen sind für Karrieren von Menschen, die von klein auf der Partei beitreten und immer wieder, immer wieder kandidieren, regional, lokal, national etc., und dass es immer wieder dieselben sind, dass diese Menschen, diese Politiker die Verbindung mit der Basis, mit dem wirklichen Leben verloren haben, weil sie eigentlich nichts anderes getan haben.
Und, wenn dazu noch kommt dieser Eindruck, dass es fast, also entweder Korruption gibt oder einen unmöglichen Umgang mit Geld, dann ist es der Tropfen zu viel gewesen. Und dieser Wunsch nach Erneuerung, das ist nicht nur ein Wunsch nach jüngeren Menschen, sondern ein Wunsch nach Persönlichkeiten, die nicht dieses "Ancien Système" vertreten, dieses alte System.
Und man könnte auf der anderen Seite das nicht sehr lustig finden, weil es im Endeffekt der Erfolg von der ganzen Propaganda der extremen Parteien, sowohl ganz links, als auch ganz rechts ist. Es besteht die Argumentation der Systemgegner, wie sie sich nennen, darin zu sagen, es gäbe oben eine Elite, die sich bedient und der es im Grunde egal ist, was mit dem wahren Volk passiert. Und unten in der Breite gäbe es ein vermeintlich kohärentes und einheitliches Volk, das dann die Wahrheit besitzen würde.
Le Pen habe "wahrscheinlich nicht breite Schultern für den Job"
Welter: Das hat Marine Le Pen stark gemacht, die nun also heute im entscheidenden Wahlgang gegen Emmanuel Macron antreten wird – die Chefin des Front National. Es gab in der Woche nun vor diesem Wahlgang ein TV-Duell, das bemerkenswert war. Ich weiß nicht, ob Sie es sehen konnten.
Miard-Delacroix: Ja.
Welter: Jedenfalls hat Marine Le Pen dort sehr früh sehr aggressiv attackiert, verbal. Und das ist ihr offenbar auch in den Umfragen nicht gut bekommen. Wie reagieren Ihre Landsleute, die Franzosen, wenn sie sehen, dass jemand nicht die hinreichende präsidiabel Haltung einnimmt?
Miard-Delacroix:Ich glaube, das war wirklich ein Fehler von ihr, so aggressiv und brutal vorzukommen. Einige können sagen, sie hat da ihr wahres Gesicht gezeigt. Sie könne nicht … auch, wenn Berater sagen, sie sollte ruhig sein und zeigen, dass sie auch gute Nerven hat. Sie kann es einfach nicht. Und diese Form des Spöttischen, sie wollte den Gegner reizen, also provozieren, sie ging sehr klar auf Konfrontation, hat wahrscheinlich einige Parteienmitglieder der Front National bestätigt, sie sei so powervoll. Aber von denjenigen, die noch nicht wussten, ob sie doch vielleicht für sie wählen gehen, hat es wahrscheinlich sehr kontraproduktiv gewirkt, denn das hat umso mehr seine Ruhe zur Geltung gebracht und seine Fähigkeit, detailliert sein Programm zu zeigen und also präsidiabel sich zu zeigen, während sie sich überhaupt nicht gemäßigt gezeigt hat.
Das ist ihr wirklich nicht gelungen. Ich habe sogar Stimmen gehört aus dieser Ecke, aus dem rechtsextremen Flügel, die gesagt haben, sie sei wirklich schlecht gewesen, sie sei ein bisschen dumm vorgekommen. Und der Haupteindruck, der dann in der Bevölkerung zu hören war, auch am Arbeitsplatz oder auf den Straßen, in Cafés usw. war: Oh Gott, wir wussten nicht, dass sie so inkompetent war.
Also, mit der Behauptung von kontrafaktischen Elementen, hat sie gezeigt, dass sie wahrscheinlich nicht breite Schultern hat für den Job, also, dass sie nicht präsidiabel ist und die Nerven auch nicht hat für einen Posten, der immerhin wichtig ist.
Politiker schaffen sich ihre eigene Partei
Welter: Staatspräsident Frankreichs zu sein. Das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Hélène Miard-Delacroix, Professorin an der Sorbonne in Paris. In den Umfragen vorne liegt als Emmanuel Macron. Reden wir über ihn.
Wie kann es sein, dass ein nahezu unbeschriebenes Blatt auf der politischen Bühne – ja – binnen eines Jahres mit seiner Bewegung "En Marche" so weit kommt, gleichsam ohne etablierten Apparat und auch ohne Anlauf es in die Stichwahl schafft?
Miard-Delacroix: Es hat zum einen auch damit zu tun, möchte ich zunächst sagen, mit dem französischen System. In Frankreich spielen die Parteien eine große Rolle im politischen Leben, aber nicht so, wie in Deutschland, wo im Grunde der Politiker ein Produkt seiner Partei ist. Das ist in der französischen Geschichte, in der Zeitgeschichte auch eher das Gegenteil gewesen, dass Politiker dann eine eigene Partei sich geschaffen haben. Das hat de Gaulle gemacht, das hat mehr oder weniger Mitterrand für sich gemacht mit der Parti Socialiste. Also, insofern ist es ein bisschen eher umgekehrt.
Also, insofern ist es weniger gravierend erstaunlich, dass er ohne Parteiapparat so hochkommen konnte. Er hat, glaube ich, profitiert von diesem – ja – Misstrauen, dominierenden Misstrauen, von dem wir schon gesprochen haben. Er hat auch davon profitiert, dass er sehr viel Optimismus irgendwie verbreitet, und dass er sich sofort sehr pro-europäisch und offen gezeigt hat und profiliert hat mit einer Mischung aus Liberalität oder Liberalismus und – ja – einem gewissen Bewusstsein, dass es den Menschen in Frankreich nicht sehr gut geht, und dass sie nach Schutz rufen. Dass er sehr, sehr geschickt diese unterschiedlichen Zutaten sehr gut vermischt und – ja – etwas Positives angeboten hat.
Denn, wenn man ein bisschen zurückblickt, haben die unterschiedlichen Kandidaten, die wir bei dem ersten Wahlgang zur Wahl hatten, das war alles sehr negativ, was gebracht wurde. Es wurde vor allem sehr viel kritisiert über die Missstände, es wurde allgemein wahrgenommen als: Ja, die anderen haben alles falsch gemacht. Aber was wollen wir jetzt? Wie wollen wir es anfassen? Und ich glaube, dass bei Macron eher das dominiert hat. Er konnte schlecht nur sagen, dass es dem Land schlechtgeht, weil er eine Zeit lang – jetzt in den letzten Jahren nicht mehr, aber eine Zeit lang ist er Wirtschaftsminister gewesen.
Also, insofern trägt er einen Teil der Verantwortung für die Situation des Landes, aber nur einen Teil. Er hat die Probleme beim Namen genannt, aber er hat vor allem nach vorne schauen wollen und ich glaube, dass es viele Leute doch überzeugt hat. Denn auf der einen Seite dominiert in Frankreich eine Form von kollektiver Depression, wo alle nur von den Problemen reden, aber – und das ist vielleicht ein Zeichen der Hoffnung – für die Zukunft wollen doch viele Leute doch nicht in diesem Loch bleiben. Und das ist dann vielleicht positiv, dass derjenige, der Optimismus und Dynamik – ja – ausgestrahlt hat, dann die Menschen überzeugt hat.
"Ob, und wenn ja, wie ein System sich verwandeln kann"
Welter: So ist Macron Erster geworden im ersten Durchgang. Für den zweiten muss man abwarten. Heute wird gewählt und heute Abend werden wir das Ergebnis kennen. Könnte Macron schaden, dass er nun ja Zuspruch und auch Unterstützung aus allen politischen Lagern hat, auch von Personen, die für frühere Regierungen stehen? Andererseits sagte er, er selbst stehe für Erneuerung. Ist das nicht ein Widerspruch?
Miard-Delacroix: Ja, also der muss handeln mit dem, was er hat. Das heißt, man hat ein bisschen die Scherben dieses parteipolitischen Systems. Und er hat versprochen, dass die Hälfte seiner der Abgeordneten, der Kandidaten für die Parlamentswahlen, die in mehreren Wochen, in einigen Wochen stattfinden …
Welter: Im Juni.
Miard-Delacroix: Dass er zur Hälfte ganz neue Leute vorschlagen wird, die aus der Zivilgesellschaft kommen, um eben den Eindruck zu vermeiden, dass man ältere Köpfe wieder an die Macht bringt. Auf der anderen Seite muss er selbstverständlich damit rechnen, dass einige, die ihn jetzt zum Teil unterstützen aus wahltaktischen Gründen oder auch, weil sie ganz einfach Marine Le Pen schlagen wollen, dass sie, wenn die Parlamentswahlen stattfinden oder nach den Parlamentswahlen, wenn das Parlament neu konstituiert wird, dass dann die einen in eine Richtung ziehen, die anderen in eine andere Richtung, und dass er Schwierigkeiten hat, eine Mehrheit für die Durchsetzung der Gesetze, die er versprochen hat.
Also, das wird sehr interessant sein zu beobachten, ob, und wenn ja, wie ein System sich verwandeln kann. Das heißt, wie möglicherweise eine politische Kraft in der Mitte des Parteienspektrums entsteht. Wie das aber mit der Verfassung funktioniert, die, diese französische Verfassung der Fünften Republik im Prinzip, sehr bipolar organisiert ist mit einer Mehrheit und einer Opposition. Und man ist daran gewöhnt, dass es entweder links gegen rechts oder rechts gegen links ist. Und diesmal könnte es vielleicht sein, je nachdem, wie die Wahlen stattfinden, die Parlamentswahlen stattfinden, dass die Mehrheit in der Mitte ist und die Opposition extrem rechts, extrem links ist.
Dass es dann eine doppelte Opposition gäbe, also eine Art, wenn man es so ein bisschen vergleichen möchte, eine Art Großen Koalition, was die Besetzung des Raumes auf dem Parteispektrum. Aber keineswegs in der Form einer Großen Koalition in Deutschland, wo zwei Parteien, drei sogar, koalieren und beschließen zusammen zu regieren. Also, insofern kann man ein bisschen vergleichen mit diesen Regierungen in der Mitte in Deutschland, aber nicht bis ans Ende.
"Macron ist derjenige Kandidat, der am europäischsten ist"
Welter: In jedem Fall wird das politische System Frankreichs starken Spannungen, aber auch Veränderungen weiterhin ausgesetzt sein. Wenn wir nun auf Macrons Europaprogramm schauen, er wird ja in Deutschland als europafreundlich wahrgenommen. Er unterstreicht stärker als alle anderen und auch im Gegensatz zu vielen anderen Kandidaten, zumal zu Frau Le Pen, die deutsch-französische Freundschaft. Jubeln seine Anhänger in Deutschland aber womöglich zu früh? Ist das, was Macron will, das, was man in Berlin will?
Miard-Delacroix: Ja und nein. Also, zum Teil ist er tatsächlich derjenige Kandidat, der am europäischsten ist. Und ich würde fast sagen, es war nicht sehr leicht, dieser zu sein, weil alle anderen ihn kritisierten. Insofern hat er sich und nicht nur so en passant, sondern ständig ausgesprochen für Bewegung in Europa und für Fortschritte mit einer sehr interessanten Mischung, die dann für die deutschen Freunde interessant sein kann, dass er einerseits immer wieder betont hat, dass Frankreich den Stabilitätspakt befolgen soll, also Defizitregeln der Eurozone befolgen soll, und dass Frankreich sich reformieren müsse als erster Schritt. Aber dann, dass Europa auch bedenkt: Was könnten wir vielleicht besser machen?
Denn es kann nicht sein, dass in allen Ländern die europafeindlichen Kräfte immer mehr an Stimmen gewinnen. Also, insofern kann sich Berlin, um auf Ihre Frage zu antworten, kann man sich in Berlin freuen, dass da ein Partner ist, der auch ganz klar gegen Marine Le Pen gesagt hat: Das geht nur mit Frankreich, geht nur mit Deutschland, nur die beiden zusammen. Und so müssen wir Seite an Seite, Hand in Hand zusammenarbeiten und nicht gegeneinander.
Auf der anderen Seite erwartet er mit Sicherheit von Deutschland, dass man sich in Deutschland bewusster wird, dessen mehr bewusst wird, dass ein weiter Bleiben an diesem strengen Kurs gegenüber allen anderen in Europa nur Katastrophen organisiert bei den Nachbarn, und dass vielleicht in Deutschland ein bisschen mehr Verständnis, ein bisschen Unterstützungsbereitschaft vonnöten sei, damit wir nicht alle am Ende in einem kaputten Europa nebeneinandersitzen.
Also, diese Vorstellung, dass er eine Dynamik in Gang setzen kann, dass er genügend positive Zeichen den deutschen Freunden sagt, nämlich: Wir wollen jetzt uns reformieren, wir wollen Fortschritte machen in Richtung dieses Stabilitätspakts, aber wir müssen zusammen unser gemeinsames Europa reformieren, eben in dem Moment, wo ein wichtiger Partner, wie die Briten, das Boot verlassen.
Also, ja, man soll sich freuen, aber nur, weil wir zusammen vorwärts, nach vorne "en marche", wie er sagt, nach vorne gehen wollen. Wenn man in Berlin erwartet, dass Frankreich sich reformieren soll, aber weiter so ein bisschen betreten und leise sprechen soll und sagt: Ja, ach wir sind nicht so stark wie die Deutschen. Das wird nicht so funktionieren. Ich glaube nicht, dass es im Interesse Deutschlands ist, dass weiterhin solche Bilder kursieren bei den Nachbarn: Die Deutschen sind so streng und wollen alles wie Imperialisten entscheiden, wie es bei den Nachbarn geht. Das wäre, glaube ich, sehr kontraproduktiv.
Welter: Also, sollte Emmanuel Macron, der in den Umfragen vorne liegt in den vergangenen Wochen, sollte er also heute zum Staatspräsidenten Frankreichs gewählt werden, was sich, wie gesagt, heute Abend entscheidet, dann gehen Sie davon aus, Hélène Miard-Delacroix, dass er durchaus auch aufpassen muss in Frankreich, weil der Anti-Merkel-Kurs, der Anti-Deutschland-Kurs hier durchaus verfängt, nicht als derjenige dazustehen, der sozusagen das tut, was Deutschland ihm diktiert?
Miard-Delacroix: Genau. Er soll sich nicht unterwerfen. Die sind die Vorwürfe, die ihm schon von vornherein gemacht worden sind. Hat Marine Le Pen bei diesem Fernsehduell sehr grob sogar gesagt und hat gesagt, er würde sich auf den Boden legen, quasi an den Füßen von "Madame Merkel". Ich glaube, das muss er sehr geschickt machen und zeigen, dass auf Augenhöhe kooperiert wird und zusammengearbeitet wird, und dass man nicht nach Berlin fährt, um um Rat zu bitten, sondern dass man die Hausaufgaben macht – das hat er ganz eindeutig gesagt –, aber wie gleichwertige Partner dann über mögliche Verbesserungen in Europa nachdenkt.
Er hat ziemlich viel insistiert auch auf die notwendige mehr Integration in der EU, auch in Verteidigungsfragen. Und ich glaube, dass man da einen Bereich hat, wo tatsächlich Deutschland und Frankreich diese Impulsgeberfunktion wieder übernehmen können, gerade in einem Bereich, wo man so unterschiedliche Positionen, Ausgangspositionen hat, unterschiedliche Kräfte, unterschiedliche Einstellungen.
Genau da könnte man sehr schnell auch Fortschritte machen, denn diese Frage der Sicherheit, nicht nur der äußeren Sicherheit, aber auch der inneren Sicherheit, die verbunden sind mit der Terrorismusdiskussion, wenn man sehr schnell zeigen kann, dass da agiert wird und nicht nur an Finanzmärkte gedacht wird, das kann, glaube ich, in Frankreich gut ankommen bei den Wählern, auch bei denjenigen, die nicht für ihn heute gewählt haben.
"Man kann davon ausgehen, dass die Le-Pen-Wähler wählen gehen"
Welter: Abschließend die Frage: Was denken Sie, wie entscheidend wird heute die Wahlbeteiligung sein? Viele Wähler sind unentschlossen gewesen, aber viele haben auch gesagt, dass sie gar nicht wählen gehen wollten. Welche Rolle kann das spielen?
Miard-Delacroix: Ja, das ist immer ein Problem der Mathematik. Die Frage ist, wissen Sie, bei dieser Stichwahl ist es die Mehrheit. Das heißt, derjenige, der die meisten Stimmen bekommt, egal die Wahlbeteiligung ist, der gewinnt. Man kann davon ausgehen, dass die Le-Pen-Wähler wählen gehen, auf jeden Fall unbedingt da sein wollen.
Diese Strategie der Linken, also hinter Mélenchon, bleibt vielen Leuten – mir auch – gewissermaßen ein Rätsel, zu sagen, entweder man bleibt den Urnen fern, weil man damit nichts zu tun haben möchte und man lässt die anderen sowieso für Macron wählen, weil man nicht Le Pen will. Das ist schwer nachvollziehbar. Was auch kompliziert zu verstehen ist für viele Franzosen, die doch wählen gehen, ist die Entscheidung wählen zu gehen, aber so "blanc", also weiß, also ungültig zu wählen.
Welter: Also, einen leeren Umschlag abzugeben?
Miard-Delacroix: Genau, einen leeren Umschlag abzugeben, um zu protestieren gegen das Angebot. Das ist zwar symbolisch sehr effizient, wenn es viele Stimmen dieser Art gibt, weil man dann sagen kann, X Prozent der Wähler war nicht zufrieden mit dem Angebot. Auf der anderen ist es das System. Das ist so. Die Spielregeln sind so, dass in den zweiten Wahlgang nur zwei kommen, und dass es selbstverständlich ist, dass die beiden nicht alle zufriedenstellen können. Aber dann muss man sich als Bürger die Frage stellen: Warum findet diese Wahl statt und was ist da meine Rolle?
Insofern sage ich immer wieder den französischen Leuten, wenn das Thema kommt. Ich sage: Wissen Sie, auf Deutsch bedeutet das Wort "wählen" oder "wählen gehen", das heißt auch: wählen. Das heißt: eine Wahl treffen. Auf Französisch ist das Wortspiel nicht möglich. Da muss man wählen.
Entweder hat man dieses Angebot oder dieses Angebot. Aber die Möglichkeit, wie man auch so lustig sagen kann, also "weiß wählen", "Monsieur Blanc", den gibt es nicht. Es gibt keinen Kandidaten, der "Blanc" heißt, also der "Weiß" heißt.
Welter: Ich bedanke mich für das Gespräch und wünsche Ihnen einen guten Tag.
Miard-Delacroix: Danke, Ihnen das Gleiche.
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