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Prag
Auf den Spuren der Besatzungzeit

Reiseführer empfehlen üblicherweise Museen, architektonische Landmarken, geben Gourmettipps. In Prag führt jetzt ein 800 Seiten starker Wälzer durch die Zeit der deutschen Besatzung. Tausende Adressen dokumentieren jene beiden Lebenswirklichkeiten, die damals strikt getrennt waren.

Von Kilian Kirchgeßner |
    Zwei Soldaten auf dem Motorrad, einer im Beiwagen, fahren durch eine von Menschen gesäumte Straße in Prag
    Deutsche Besatzungsarmee 1939 in Prag (picture alliance / dpa/ CTK)
    Eins müsse er gleich vorneweg sagen, kündigt der Autor Jiri Padevet an, als er über den Wenzelsplatz spaziert, den geschäftigen Boulevard mitten im Prager Zentrum: Viele Tschechen hätten ein eingefärbtes Bild von der Zeit des Protektorats.
    "In der Schule haben wir gelernt, dass Prag von der Roten Armee befreit worden ist. Davon, dass die Tschechen Prag während des Aufstands in weiten Teilen selbst zurückerobert haben oder auch vom demokratischen Widerstand haben wir nichts gehört."
    Jetzt ist er es, der das Geschichtsbild vieler Tschechen durcheinanderwirbelt: Jiri Padevet, ein Mann in den 40ern mit gut sitzendem Anzug, im Hauptberuf Verlagschef, hat dem Prag der Jahre 1939 bis 1945 nachgespürt, dafür Haus für Haus durchforstet – und aus seinen Recherchen einen 800-Seiten-Wälzer zusammengetragen, einen Reiseführer durch die dunkle Zeit.
    "Wir sind jetzt in der Straße Ve Smeckach. Hier war der Pediküre-Salon von Herrn Sara. Mit seinem Sohn hatte er eine Widerstandsorganisation gegründet und Widerstandskämpfern Unterschlupf gewährt. Aber die Gestapo hat seine Organisation schon 1942 infiltriert. Manche Kämpfer, die hier Zuflucht gesucht haben, sind deshalb schon einen Tag später festgenommen worden. Das Ende kam schließlich so, dass eine andere Abteilung der Gestapo das Netzwerk hat hochgehen lassen – die wussten nicht, dass sie damit ihren eigenen Kollegen auf die Füße treten. Herr Sara senior wurde erschossen, sein Sohn hat überlebt."
    Ehemals strikt getrennte Lebenswelten
    Mehrere Tausend Adressen hat Padevet zusammengetragen, oft spielten sich ähnliche Szenen ab wie hier hinter den Schaufenstern des Pediküresalons. In schlichten Stichworten listet er im Buch auf, was geschehen ist – und führt so für den Spaziergänger im Prag von heute jene beiden Lebenswirklichkeiten zusammen, die damals strikt getrennt waren.
    "In den meisten Fällen lebten deutsche Besatzer und Einheimische in zwei Welten, sie hatten keinen Kontakt miteinander. Natürlich gab es die Bereiche, in denen man zusammentraf – in der Politik, auch in der Kultur. Manchmal waren es Kollaborateure, andere wollten dem Widerstand helfen – und oft waren die Grenzen dazwischen fließend."
    Sein Buch ist mehr als ein bloßer "Reiseführer": Für seine Recherchen ist Jiri Padevet jahrelang in Archive abgetaucht und hat auch Material ausgewertet, das bislang noch nicht gesichtet worden war.
    "Am meisten hat mich die Recherche über eine geheime Geburtsklinik bewegt, die im Prager Ortsteil Vinohrady in einer jüdischen Villa eingerichtet worden war. Da haben sie schwangere Frauen aus Ravensbrück hingebracht; nach der Geburt sind ihnen die Kinder sofort weggenommen worden und die Frauen wurden wieder ins KZ zurückgebracht. Diese Klinik war bis 1943 in Betrieb. Traurig ist, dass tschechische Söldner die Bewachung der Villa übernommen haben."
    Helden und Denunzianten
    Auch solche Geschichten finden sich in seinem Buch: Geschichten von Kollaboration und Verrat, die es zu Hunderten gegeben hat. Manche Prager seien unter Druck zu Helden geworden, andere zu Denunzianten, bilanziert Jiri Padevet.
    "Ich möchte Fakten zusammentragen und nicht werten. Man soll stets sehen, dass Verbrechen geschehen sind – aber es waren immer konkrete Täter und nie einfach nur "die Deutschen" oder später am Kriegsende dann "die Tschechen".
    Sein Reiseführer durch das besetzte Prag ist in Tschechien inzwischen ein Bestseller – und ist das erste Sachbuch, das beim renommiertesten Literaturpreis des Landes zum "Buch des Jahres" gekürt worden ist. Der Blick auf die tschechische Geschichte, das zeigt diese Auszeichnung, verändert sich allmählich – und die Debatte wird nicht mehr nur unter Historikern ausgetragen.