Fahrräder aus der Werkstatt holen und vor dem Ladenlokal aufstellen – so beginnt für Justin Fichtner drei Mal die Woche der Arbeitstag. Mit Kundenberatung und Reparaturen geht es weiter:
"Dann haben wir ihm eine neue Kassette draufgesteckt und eine neue Kette draufgemacht, damit es nicht so teuer wird, haben wir die Kurbel behalten. Tja, und jetzt kann er wieder weiterfahren."
Der 16-Jährige besucht die Johann-Georg-Palitzsch-Oberschule in Dresden. Die Hauptschule bietet abschlussgefährdeten Jugendlichen ein besonderes Angebot namens Produktives Lernen. Diesen alternativen Bildungsweg gibt es neben Sachsen auch in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Der Schwerpunkt ist das "Lernen in der Praxis."
Während Justin Fichtner drei Monate im Fahrradgeschäft arbeitet, geht Laura Meier in den Kindergarten.
"Das Besondere ist, dass wir zwei Mal in der Woche Schule haben, die drei anderen Tage Praktikum haben. In der normalen Schule ist es so, der Lehrer gibt Hausaufgaben und die müssen alle machen. Hier ist es so, jeder kriegt halt seine eigenen Hausaufgaben auf, weil jeder halt einen anderen Praktikumsplatz hat."
Viel Praxis
Individuell ausgerichtete Aufgaben, kleine Gruppen, enge Betreuung durch zwei Lehrerinnen und sehr viel Praxisbezug, das sind die Kennzeichen des Produktiven Lernens. Für die Jugendlichen bedeutet das einen anderen Zugang zum Unterricht. Lehrerin Sibylle Benndorf ist seit 2009 beim Produktiven Lernen in Dresden dabei.
"Unsere Schüler haben Schule bisher immer negativ erlebt. Ein Schüler, dem das Vertrauen abhanden gekommen ist, der fängt wirklich bei uns ganz neu an. Der Schüler braucht Erfolg, der muss jeden Tag hier rausgehen: Ich war erfolgreich. Der Schüler geht bei uns jeden Tag mit einem positiven Gefühl raus."
Der erste Schritt, um in das zweijährige Produktive Lernen aufgenommen zu werden, ist das Bewerbungsgespräch. Und erst nach einer sechswöchigen Orientierungsphase wird die Bildungsvereinbarung unterschrieben. Viele der Schüler und Schülerinnen sehen es als ihre "letzte Chance", um doch noch einen Hauptschulabschluss zu erreichen – wie Christian Frizler und Leon Haß:
"Man hat hier noch eine Chance verdient, wenn man mal zum Beispiel Mist gebaut hat. Die erklären es dir halt 100 Mal, wenn es sein muss. Die Lehrer kommen bei jedem vorbei, gucken, ob du es richtig machst, erklären es dir halt."
"Man hat hier noch eine Chance verdient, wenn man mal zum Beispiel Mist gebaut hat. Die erklären es dir halt 100 Mal, wenn es sein muss. Die Lehrer kommen bei jedem vorbei, gucken, ob du es richtig machst, erklären es dir halt."
Lernen mit Bezug zum Praktikum
Im Unterricht gehören Mathematik, Deutsch und Englisch ebenso dazu wie die Lernbereiche Natur/Technik oder Gesellschaft und Wirtschaft. Wenn die Gruppe sich an zwei Tagen pro Woche im Klassenraum trifft, arbeiten alle an ihren eigenen Aufgaben, je nach Interessen und Fähigkeiten. Die Themen stehen dabei meist in direktem Bezug zum jeweiligen Praktikum.
"In der Fahrradwerkstatt kommt Mechanik aufs Tablett. Und jetzt müssen wir natürlich den Schüler dahin bringen, dass er sich damit auch beschäftigt. Das ist dieser individuelle Lernplan. Das macht dann nur der Justin und nicht die Laura, die im Kindergarten arbeitet, die macht mehr Biologie oder Ethik."
Um diese Verzahnung von Praxis und Schule zu gewährleisten, wäre es ideal, wenn auch der Mentor im Betrieb, etwa ein Kollege oder die Chefin, sich Zeit nimmt für die Praktikanten. In der Realität gelingt das nicht immer, der eine oder die andere bleibt auf sich gestellt. Dann müssen die Lehrerinnen einspringen und zum Beispiel überlegen, wie sich Prozentrechnung mit der Arbeit im Fahrradladen oder im Kindergarten verbinden lässt.
Insgesamt aber zahlt sich das Engagement auf allen Seiten aus: zwischen 2014 und 2017 haben 79 Prozent der abschlussgefährdeten Jugendlichen in Sachsen über das Programm ihren Hauptschulabschluss geschafft. Und über die Hälfte von ihnen konnte anschließend eine Ausbildung beginnen.