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#PrayFor
"Wer von Euch hat wirklich gebetet?"

Nach jedem Anschlag wird - mit wechselnden Ortsnamen - in den sozialen Medien zum Gebet für die Opfer aufgerufen. Daran beteiligen sich auch Menschen, die ansonsten mit Religion nicht behelligt werden wollen. Doch mit der Zahl der Attentate wächst auch die Kritik an diesem Hashtag-Automatismus.

Von Matthias Alexander Schmidt |
    Zusammen trauern und zusammen beten in Manchester
    Zusammen trauern und zusammen beten in Manchester (picture-alliance / dpa / Guillaume Georges)
    Pfingstsonntag auf dem Petersplatz in Rom: Papst Franziskus bittet den Heiligen Geist, er möge der ganzen Welt Frieden schenken. Er möge die Wunden von Krieg und Terrorismus heilen, die Wunden des Terrorismus, der auch in dieser Nacht, in London, unschuldige Opfer gefordert habe. Papst Franziskus ruft die Gläubigen zum Gebet auf: Für die Opfer der Anschläge und für ihre Angehörigen...
    "... preghiamo per le vittime e i familiari ..."
    Brüssel, Paris, Nizza, Berlin, London, Manchester, und jetzt schon wieder London: Nach den Terroranschlägen der vergangenen Wochen und Monaten haben nicht nur Papst, Bischöfe und Vertreter von Islam und Judentum zum Gebet aufgerufen. In den sozialen Medien, auf Facebook und Twitter versehen religiöse wie nicht-religiöse Nutzer ihre Posts mit dem Hashtag "PrayFor" - jeweils ergänzt mit dem Anschlagsort: #PrayForLondon. Betet für London!
    "Im christlichen Sinne ist das noch kein Bedürfnis nach Gebet", sagt Elaine Rudolphi. Neben ihrer Arbeit in einer Pfarrgemeinde betreut die katholische Theologin religiöse und spirituelle Social-Media-Projekte. Für sie ist der Hashtag #PrayFor "erstmal ein Ausdruck von Hilflosigkeit, weil ein Weltbild oder ein Orientierungsrahmen kaputt gegangen ist und nach einem neuen Rahmen gesucht wird, in dem man sich selbst mit seiner Unbeholfenheit auch positionieren kann."
    Kollektive mediale Anteilnahme
    Neu sei dabei das Medium Social Media - nicht aber, dass Menschen kollektiv und öffentlich ihre Anteilnahme ausdrücken. Elaine Rudolphi macht es an einem Ereignis fest:
    "Der Tod von Lady Di. Das ist wirklich das erste Mal gewesen, wo Menschen in Massen an einen Ort geströmt sind und da Teddybären und Blumen und Kerzen hingestellt haben und Luftballons an den Zaun geknüpft haben. Das ist sozusagen die analoge Variante davon gewesen."
    "Genau das Gleiche passiert durch das Posten von Bildern und Kommentaren in den Sozialen Netzwerken", sagt Gunnar Bach. Der Theologe engagiert sich ehrenamtlich im weltweiten Gebetsnetzwerk des Papstes. "Das Gebet überwindet Grenzen, ganz gratis. Ich kann pietätvoll Anteil nehmen und meine Solidarität mit den Opfern und Trauernden ausdrücken, von jedem Ort auf der Welt aus."
    Jürgen Pelzer hat erforscht, wie Religiosität in Facebook funktioniert. Als katholischer Theologe arbeitet er im Fachbereich Religionspädagogik und Mediendidaktik an der Uni Frankfurt. Er findet:
    "Das Spannende an diesen ganzen Hashtags in den sozialen Medien: All diese Aktionen sind im Kern von daher religiös, weil sie es ermöglichen, dass ich plötzlich als Einzelperson in eine Sache eintauchen kann, mit einer Sache Beziehung aufnehmen kann und nicht mehr allein da bin."
    Ein prominentes Vorbild: Papst Franziskus twittert "Please pray for me"
    Ein prominentes Vorbild: Papst Franziskus twittert "Please pray for me" (AFP / GABRIEL BOUYS )
    Der Wunsch, seine persönliche Betroffenheit zu äußern, gehe in der öffentlichen Wahrnehmung oft unter, meint Pelzer. Kirche und Gesellschaft seien hierarchisch organisiert, sodass meist einer rede und die anderen zuhörten:
    "Die sozialen Medien sind genau andersrum: Es gibt sozusagen auf gleicher Höhe ein solidarisches Beziehungsgeflecht. Da liegt die große Chance auch drin, auch gerade für Religion in sozialen Medien. Dass der einzelne zusammen mit anderen in Beziehung zu einer Sache tritt, die sie unmittelbar anspricht."
    Dabei zeigt sich allerdings auch ein Bedürfnis nach Abgrenzung, sagt Elaine Rudolphi:
    "Ich gehöre dann sozusagen zu den Guten, die sagt: Das, was passiert ist, ist nicht das, was ich will. So will ich meine Welt nicht."
    "Ihr nutzt eine schlimme Situation schamlos aus"
    Ähnlich wie der Hashtag RIP nach dem Tod von Musikern, Schauspielern und anderen Prominenten hat sich #PrayFor mittlerweile zu einem medialen Selbstläufer entwickelt. Im Kampf um Aufmerksamkeit und Gefällt-Mir-Klicks in den Social-Media-Kanälen wollen manche Nutzer die Hashtags schon nicht mehr sehen. Ein YouTuber regt sich auf:
    "Wisst Ihr eigentlich, was Ihr da schreibt? Wer von Euch betet denn wirklich für London? Wer – von Euch– hat wirklich – GEBETET? Einige von Euch sicher nicht! Ist doch klar: Viele benutzen den Hashtag nur, um Aufmerksamkeit auf Twitter zu bekommen – Ihr nutzt eine schlimme Situation schamlos aus! Leute posten den Hashtag, nur um irgendwas zu twittern!"
    Wolfgang Beck, Juniorprofessor für Pastoraltheologie und Leiter der Medienausbildung für Theologen an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt findet diese Kritik berechtigt ...
    "...wenn es tatsächlich nur darum geht, auf der Aufmerksamkeitswelle zu surfen. Am Ende noch froh zu sein, dass es 'nen Terroranschlag gibt, damit man wieder n Anlass hat irgendwas zu posten. Das wär natürlich hochgradig fragwürdig."
    Mindestens genauso fragwürdig wäre es jedoch, wenn Katastrophen und Terroranschläge keine Reaktionen hervorriefen:
    "Der Nüchterne ist immer nur der, der nicht mal mehr mit den Achseln zucken kann. Es gibt für uns als Christen eigentlich nicht die Option zu sagen, da passiert etwas Schlimmes und wir bleiben unberührt davon."
    Der You-Tuber verspricht: "Ich sag' Euch, was ich machen werde. Ich werde wirklich für London beten – und für alle anderen Orte. Heute Abend, bevor ich ins Bett gehe, bete ich, dass bessere Dinge in der Welt passieren. Das Twittern bringt doch nichts!"
    Gunnar Bach vom weltweiten Gebetsnetzwerk des Papsts sieht die Kritik an den Hashtags gelassen. Schließlich gebe es ein prominentes Vorbild:
    "Papst Franziskus macht das ständig selbst in seinen Tweets: er fordert dazu auf "beten wir", "bitten wir für…". Und zu dem Vorwurf des Missbrauchs des Wortes "beten" denke ich, sollte man barmherzig und gelassen bleiben. Keiner ist davon frei, seine eigenen Wünsche und Interessen in das Gebet hineinzulegen und mit dem Beten beeinflussen und manipulieren zu wollen."
    #DontPrayFor ...
    Don't Pray For Paris – so heißt die religionskritische Gegenbewegung in den Sozialen Medien, deren Vertreter zum Kampf gegen "hasserfüllte religiöse Ideologien" aufrufen. Nach den Anschlägen von Paris schrieb Michael Schmidt-Salomon, Vorstandssprecher der humanistischen Giordano-Bruno-Stiftung:
    "Beten hilft nicht gegen religiösen Fundamentalismus, sondern nur engagiertes Handeln! Mehr soziale Gerechtigkeit, mehr religionskritische Bildung und mehr Freiheit! Denn solche Anschläge kann nur verüben, wer ein intellektuell äußerst limitiertes Weltbild besitzt - Stichwort Religiotie!"
    Adel Tawil singt: "Ich hab die Bibel nicht gelesen, hab' den Koran nicht dabei, doch wenn ich all das sehe, Gott steh mir bei! Hab die Tora nie gehört, hatte für Buddha keine Zeit, doch wenn ich all das sehe, Gott steh mir bei ..."
    Kurz nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt postete der Sänger dieses Lied auf Facebook - mit dem Hashtag #PrayForBerlin. Das Lied macht deutlich, findet Jürgen Pelzer,
    "dass eigentlich das religiöse Moment in jedem Menschen vorhanden ist, in manchem schlummert es, in machen ist es schon mehr erwacht. Es gibt Situationen im Leben, meistens eben solche Transzendenz-Erfahrungen, also wo etwas Besonders passiert, das über das Normale hinausgeht, dass Menschen religiös angesprochen werden, auch wenn das Vokabular fehlt oder die Sozialisation, ist im Grunde im Herzen doch alles da. Aus diesen Situationen entstehen manchmal die berührendsten Zeugnisse für religiöse Gebete und Glaubenaussagen, die dann wiederum auch die Strahlkraft haben, andere mitzuziehen."