Archiv

Prekäre Lebensverhältnisse trotz Arbeit
"Ein soziales Phänomen vergleichbar mit der Arbeitslosigkeit"

Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist günstig. Doch bei Millionen Deutschen reicht der Job nicht zum Leben und für eine ausreichende soziale Absicherung. Dabei ist für prekär Beschäftigte nicht immer nur das niedrige Einkommen entscheidend, hat die Hans-Böckler-Stiftung in einer Untersuchung herausgefunden.

Markus Promberger im Gespräch mit Birgid Becker |
    Ein Mann sucht in Berlin in einem Papierkorb nach Pfandflaschen oder Pfanddosen.
    Für vier Millionen Menschen reicht das Einkommen nicht zum Leben. (picture alliance / Wolfram Steinberg)
    Birgid Becker: Während die Zahl der Arbeitslosen recht präzise bekannt ist, sieht es bei Menschen, die arbeiten, aber trotzdem in Knappheit und Unsicherheit leben, anders aus. Deren Zahl kann nur geschätzt werden. Neuerdings aber sind die Schätzungen verlässlicher. Eine Studie, die von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde, hat ausgelotet, wie viele Menschen dem Prekariat zuzurechnen sind und wie es um deren Lebensumstände bestellt ist. Mit einem der Studienautoren habe ich gesprochen, mit dem Erlanger Sozialwissenschaftler Markus Promberger. Zunächst die Zahlen, wie viele sind es?
    Markus Promberger: Es sind zirka vier Millionen. Ganz genau kann man es nicht sagen, weil Umfragen, Meinungsumfragen haben immer ein paar Unschärfen. Aber wir gehen von vier Millionen aus.
    Becker: Nun gibt es mehr als 45 Millionen normal, sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Vier Millionen davon, sagen Sie, in prekären Bedingungen. Wie muss man das sehen? Ist das viel, ist das wenig?
    Promberger: Ich finde, es ist von der Größenordnung her vergleichbar mit der Arbeitslosigkeit. Das heißt, wir haben es tatsächlich mit einem behandlungsbedürftigen sozialen Phänomen zu tun.
    Nicht nur Einkommen, oft Lebensumstände entscheidend
    Becker: Dann haben wir es zu tun, sagen Sie, mit einem Prekariat, trotz glänzender Lage auf dem Arbeitsmarkt, trotz Rekordständen bei der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Wie passt das?
    Promberger: Da gibt es zwei Probleme. Zunächst: Wenn Sie über Prekarität sprechen, müssen Sie immer auch die Lebensumstände mit einbeziehen. Das heißt, wir dürfen nicht nur das Beschäftigungsverhältnis betrachten, sondern müssen uns auch auf den Familien- und Haushaltszusammenhang richten. Wenn jetzt jemand zum Beispiel mehrere Kinder hat, oder zwar ein Normal-Arbeitsverhältnis, aber einen sehr geringen Lohn hat, oder aber auf der anderen Seite der Partner oder die Partnerin vielleicht deutlich mehr verdient, dann ist es schwierig, das dem Prekariat oder dem Nichtprekariat zuzurechnen. Ein bisschen genauer gesagt: Ein Mann, der einen Minijob hat und seine Frau ist Chefin in der Bank, wird nicht zum Prekariat gezählt, obwohl sein Job eigentlich prekär ist.
    Auf der anderen Seite: Wenn zwei Niedrigeinkommensverdiener, beide aber Vollzeit arbeiten und keine Kinder haben, dann reicht eigentlich vielleicht auch auf der Haushaltsebene das Einkommen. Man muss immer eine gemischte Betrachtung anstellen. Wir betrachten verschiedene Größen, die uns zeigen, ob jemand prekär beschäftigt ist. Ein geringes Einkommen allein reicht noch nicht aus, damit wir von prekär Beschäftigten sprechen, sondern es muss auch noch zum Beispiel ein hohes Kündigungsrisiko dazukommen. Ein Beamter, der gering verdient, den würden wir nicht als prekär beschäftigt einstufen.
    Becker: Wo ist das Kernproblem? Ist das soziale Unsicherheit, ist das niedriger Lohn, ist es mangelnde Sicherheit?
    Promberger: Wir haben eine kumulierte Problemlage vor uns. Wenn wir in unserer Forschung von Prekariat sprechen, meinen wir Menschen, die doppelt betroffen sind: Zum einen von einer unsicheren Beschäftigung oder geringen Beschäftigung und zum anderen von einer schlechten wirtschaftlichen Lage des Haushalts.
    Becker: Und was die Zahlen angeht, da kommen Sie bei den prekär Beschäftigten auf eine Größenordnung, die in etwa der entspricht der Menschen, die im Hartz-IV-Bezug leben.
    Promberger: Sagen wir so: In der Zahl der Stellen ja, je nachdem wie man rechnet. Die entsprechen sich ungefähr, die Zahlen.
    Becker: Das heißt, wir hätten, wenn wir von einem sozialen Problem sprechen, das Problem der Arbeitslosigkeit, aber auch das Problem derjenigen, die arbeiten und trotzdem prekär leben.
    Promberger: Genauso ist es.
    Arbeitnehmer mit geringer beruflicher Bildung am meisten betroffen
    Becker: Welche Bevölkerungsgruppe ist denn da am meisten betroffen?
    Promberger: Das sind zunächst meist Menschen mit geringer Bildung oder geringer beruflicher Ausbildung, die aber trotzdem von ihrer Lebensgewohnheit, von ihrem Lebensgefühl her Arbeiter oder Arbeitnehmer sind. Das heißt, Arbeitnehmer mit einer schlechten Bildungsposition, mit einer schlechten beruflichen Position, aber auch mit einer Beziehung, mit einem Familienzusammenhang, der da nicht rausführt.
    Becker: Und wenn Sie jetzt so einen Dreiklang bilden aus geringer sozialer Sicherheit, aus niedrigem Lohn und aus schwierigen Haushaltsverhältnissen, dann liegt natürlich auch der Verdacht nahe, dass das politisch, was die Möglichkeiten der Intervention angeht, vergleichsweise schwer zu fassen ist.
    Promberger: Das glaube ich gar nicht. Ich glaube, es gibt verschiedene Interventionsmöglichkeiten. Der Mindestlohn ist eine Interventionsmöglichkeit. Das reicht aber nicht, denn über den Mindestlohn, sobald man Familie hat, oder auch solange der Partner, die Partnerin nicht arbeitet, wird es schwierig. Das heißt, Mindestlohn ist der eine Punkt.
    Der zweite Punkt ist ein leichterer Zugang in bestimmte Sozialleistungen, zum Beispiel ins Arbeitslosengeld eins. Bisher muss man zwölf Monate Anspruchsberechtigung erwerben, bevor man Arbeitslosengeld eins bekommt, also zwölf Monate gearbeitet haben. Wenn man das reduziert zum Beispiel, dann haben viele dieser Menschen, die ja auch von Erwerbsunterbrechungen betroffen sind, weniger Probleme.
    Verfügbarkeit von Wohnraum verbessern
    Becker: Sie rutschen dann nicht so schnell in den Hartz-IV-Bezug, meinen Sie praktisch?
    Promberger: Sie rutschen nicht so schnell in den Hartz-IV-Bezug zum Beispiel und haben ein etwas höheres Einkommen. Das Zweite ist: Wir müssen uns überlegen, wie leben eigentlich Menschen mit geringem Einkommen in Deutschland. Wie sieht der Alltag aus, was für Transportmittel benutzen die, in was für Schulen gehen die Kinder, wo wird eingekauft. An dem Punkt sprechen wir auch über so was wie Gemeingüter. Vielleicht das beste Beispiel ist: Gerade in Ballungszentren sind ja die Mieten in den letzten Jahren sehr stark gestiegen. Die Verfügbarkeit von bezahlbarem Wohnraum in Deutschland ist ganz stark gesunken. Das heißt, gerade Familien mit geringerem oder mit unstetem Einkommen, auch Alleinstehende mit geringem oder unstetem Einkommen sind davon besonders stark betroffen. Das heißt, wir müssen auch wieder was dafür tun, die Verfügbarkeit von Wohnraum zu verbessern für Menschen mit geringem Einkommen, dass sich von dem geringen Einkommen auch besser leben lässt. Das ist der Punkt.
    Becker: Man spricht ja gerade jetzt in Zeiten der glänzenden Beschäftigungslage gerne von einem verfestigten Sockel an Langzeitarbeitslosen, die sich schlecht erreichen lassen. Gibt es auch so was wie ein verfestigtes Prekariat, oder ist das durchlässiger? Gibt es da mehr Entwicklungsmöglichkeiten nach oben in bessere Lebenssituationen?
    Promberger: Zunächst müssen wir mal unterscheiden zwischen Verfestigung und Verstetigung. Wir können eigentlich letzten Endes nur die Verstetigung beobachten. Was Sie ansprechen ist eigentlich die Dynamik. Wir wissen, dass bei Langzeitarbeitslosen die Rückkehr in Arbeit immer unwahrscheinlicher wird. Ähnliches kann man eigentlich für das Prekariat nicht sagen. Aber wir wissen trotzdem, dass es diese knapp vier Millionen gibt, die zumindest in den Zehn-Jahres-Zeiträumen da nicht rauskommt, die wir beobachtet haben.
    Prekariat von heute Altersarmen von morgen
    Becker: Ist dieses Prekariat ein unentdecktes soziales Problem, oder taucht es doch in anderen Politikfeldern immer wieder auf, wenn es zum Beispiel darum geht, Altersarmut oder kommende Altersarmut zu bekämpfen? Dann sind ja wahrscheinlich genau die Menschen gemeint, über die Sie da geforscht haben.
    Promberger: Ja, selbstverständlich. Wer heute oft arbeitslos ist und geringen Verdienst hat, geringes Haushaltseinkommen hat, hat auch eine höhere Wahrscheinlichkeit, im Alter später auf Grundsicherung angewiesen zu sein. Das heißt, das Prekariat von heute können unter Umständen auch die Armen von morgen sein.