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Premierenwochenende mit Horváth und Kluge

Gleich eine Doppelpremiere war es in München mit Stücken von Alexander Kluge und Ödön von Horváth. Beide setzen sich im Residenztheater mit sozialer Kälte und wirtschaftlichen Krisenzeiten auseinander.

Von Cornelie Ueding |
    Eine chinesische Zirkusdirektorin bezaubert das Publikum; sie spricht und singt, lockt und strahlt, während ein Textband mit der – vermuteten – Übersetzung läuft. Szenenwechsel: Vier Überlebende aus Stalingrad werden nach der Zerstörung der Welt als Trümmer ihrer selbst in Schubkarren angekarrt und auf so etwas wie blutroter Lava regelrecht ausgeschüttet. Restbestandteile der "Menschheit", die, kaum haben sie sich etwas sortiert, anfangen, sich wortreich und gedankenschwer mit ihrer Geschichte (also unserer "Kultur") auseinanderzusetzen:
    Zweiter Weltkrieg, Krieg der Sterne, Blitzkrieg, Erstschlag, Auslöschung –Lebenszerstörende Kälte.

    Dass ihre Erinnerungsarbeit längst Teil eines chinesischen Zirkusprogramms ist, ahnen sie nicht. Auch der wissbegierige Zuschauer muss leider dem Programmheft entnehmen, in welchem Spannungsverhältnis die beiden Parallelwelten dieses theatralisierten Essays zueinander stehen. Man sieht zu, wie Reflexionen und Ideen Arme, Beine, Stimmen, Raum und Klang bekommen. Da wird geredet, gelallt, gestottert, gebrüllt und gestammelt, vierbeinig gehampelt und gekrochen, dia- und mehr noch monologisiert - doch ach: keines der Gedanken-Bilder gewinnt durch dieses szenische Bebilderungsverfahren an Welthaltigkeit und Konkretheit.

    Regisseur Kevin Rittberger kann sich, wenn er, statt "nur" erzählende Prosa, sogar Teile eines Hunderte von Seiten umfassenden Essays auf die Bühne stemmt, auf den Autor Alexander Kluge berufen, den Grand Seigneur des an medialer Multidimensionalität orientierten Philosophen. Doch wer einen Essay liest, kann jederzeit innehalten, selber nachdenken. In München werden Fragen der Universalgeschichte des Menschen so lange lähmend, wie in einer Endlosschleife rekapituliert - bis man das "Wunder" einer idyllisierten zirzensischen Friedensfeier unter Leitung der schäkernden chinesischen Parteisoldatin und fröhlichen Agitatorin fraglos zu schlucken bereit ist. Ganz ohne Ironie und doppelten Boden. Der politische Stachel von Kluges "Lernprozessen mit tödlichem Ausgang" blieb bei diesem Versuch nach dem Motto "Philosophy goes Theatre" auf der Strecke.

    Frank Castorf ist mit seinem Schlag, man muss schon sagen: gegen Horváths grausam-sentimentale Oktoberfest-Farce "Kasimir und Karoline" den umgekehrten Weg gegangen. Als wollte er den Beweis antreten, dass es auch möglich ist, das Theater so gnadenlos mit Philosophemen aufzublasen, dass aus einer schlanken Szenenfolge von vielleicht 90 Minuten sage und schreibe fast 4 ½ Stunden werden. Bei seiner theatralischen Entstaubung hat er den reizvollen Ansatz, Kasimir und Karoline nicht nur als "Opfer" zu zeigen, sondern auch als gehässig, dumm, größenwahnsinnig und geltungssüchtig an der eigenen Vernichtung Mitwirkende verspielt.

    Mit langen Zitaten aus einer der perfidesten faschistoiden Hetzschriften, Ernst Jüngers "Arbeiter", hat er den Text durchsetzt, die Figuren lässt er ein buntes Potpourri aus Naziliedern, kokett mit dem Publikum verbandelt, herausgrölen – tja, wenn’s drum geht, die Leut zum Lachen zu bringen, ist der künftige Ring-Regisseur ist um keinen launigen Einfall verlegen. Er hat sogar ein paar lustige Figuren hinzuerfunden: es gluckst und kichert, jedenfalls vor der Pause, wenn die wie auf Rädern watschelnde, wackelnde Mutter, eine alte Klofrau, auftritt; quietschende Freude macht sich breit über den in alle Richtungen pissenden Vater oder den windigen Nazi, der Haue auf den nackten Popo kriegt. Und natürlich fehlen weder das Klohäusl noch dauerquasselnde Nutten.

    Man schreit, brüllt und watscht sich durch den Abend – aber, um nicht missverstanden zu werden, die Klage gilt nicht dem Niedergang seriöser Theaterkultur. Sie gilt der unsäglichen Langeweile, der lähmenden Öde, mit der einen dieses aufgedunsene Theatergebilde nach Stunden in eine Art katatonen Erstarrungszustand versetzt.

    Horváths hartes, politisches Stück, das Gemeinheit, Perfidie und Verführungskraft des Faschismus in seiner Anfangsphase scharf und präzise zeigt, verliert in Castorfs eitel-beliebigen, ja: selbst die wunderbaren Schauspieler und das für neue Sehweisen offene Publikum verachtenden Auswucherungen jede Kontur – und jede politische Schlagkraft.

    Das Fatalste – und das verbindet die beiden Abende aufs Unerfreulichste: im Bemühen, ganze Systeme zu erfassen und zu attackieren, spielen einzelne Menschen, ihr Leben, ihre Gefühle, nur noch eine ganz und gar untergeordnete Rolle. Ob man sich eigentlich darüber im Klaren ist, dass man damit Ernst Jünger auf höchst bedenkliche Weise eher bestätigt als kritisch attackiert?