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Pressefreiheit in der Türkei
"Wir arbeiten wie in einer belagerten Burg"

Aufgrund der hohen Zahl an inhaftierten Intellektuellen seien die Gefängnisse der Ort mit der höchsten Alphabetisierungsquote in der Türkei, sagte Publizist Can Dündar im DLF. Dort gebe es viele kulturelle Aktivitäten. Mit Blick auf die Pressefreiheit beklagte er: "Wir müssen jeden Tag von der Zeitungsredaktion zum Gerichtssaal und zurück."

Can Dündar, Deniz Yücel und Oliver Kontny im Gespräch mit Angela Gutzeit |
Angela Gutzeit, Deutschlandradio im Gespräch mit Can Dündar, ehem. Chefredakteur der türkischen Zeitung "Cumhuriyet"
Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur der türkischen Zeitung "Cumhuriyet", im Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse. (Deutschlandradio / Jelina Berzkalns)
Angela Gutzeit: Die Türkei und die Meinungsfreiheit, das ist das Thema unserer heutigen Sendung. Wir wissen die Meinungsfreiheit ist wahrlich in vielen Ländern unserer Erde bedroht oder überhaupt nie vorhanden. Demokratische Strukturen werden weltweit, soweit sie existierten, eher ab- als aufgebaut. Warum also beschäftigen wir uns gerade so intensiv mit der Türkei? Die Antwort lautet: Die Türkei ist uns in besonderem Maße verbunden durch rund 1,5 Millionen Türken beziehungsweise türkischstämmige Menschen, die bei uns leben.
Durch ein umstrittenes Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei, wovon Deutschland profitiert und unter anderem durch seine einstige Brückenfunktion - es ist die Frage, ob sie denn noch so existiert - zwischen dem Westen und dem arabisch-muslimischen Raum. Das alles steht auf dem Spiel, das Verhältnis ist gestört, insbesondere seit dem missglückten Militärputsch vom 15. Juli 2016 geht die Regierung Erdogan massiv gegen Andersdenkende vor. Eine beispiellose Verhaftungswelle von Intellektuellen, Lehrern, Staatsbediensteten, Kulturschaffenden, Journalisten und Schriftstellern lässt die Türkei ausbluten. Viele Dissidenten gehen ins Exil. So auch Can Dündar, der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung "Cumhurriyet", den ich hiermit sehr herzlich begrüße.
Ich begrüße ebenfalls Denis Yücel, Türkeikorrespondent der Tageszeitung "Die Welt" und außerordentlich aktiv auch bei uns im deutschen Fernsehen und so weiter und in den Medien, unermüdlich streitet er für die Menschenrechte in der Türkei. Und ich begrüße Oliver Kontny, akademisch ausgebildeter Turkologe und Iranist, neben dramaturgischen und Hörspiel-Tätigkeiten ist er unter anderem Lehrbeauftragter für Themen rund um die Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik in der Türkei. Er tritt jetzt heute bei uns hier in einer schwierigen Doppelrolle auf, denn er wird dolmetschen, wodurch sich immer wieder natürlich auch Verzögerungen ergeben. Das werden wir gleich merken.
Can Dündar war monatelang im Gefängnis, auf ihn wurde ein Mordanschlag verübt. Er ist geflohen und musste sein Frau zurücklassen, um einer weiteren Verhaftung zu entgehen. Seine angebliche Verfehlung war, dass er als Chefredakteur von "Cumhuriyet" zusammen mit seinen Kollegen Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes wohl an syrische Dschihadisten publik gemacht hat. In der Haft hat er Aufzeichnungen machen können - sie sind nun als Buch in deutscher Übersetzung bei Hoffmann & Campe erschienen, "Lebenslang für die Wahrheit. Aufzeichnungen aus dem Gefängnis", so der Titel.
Dündar: "Im Prinzip arbeiten wir wie in einer belagerten Burg"
Can Dündar, eine Zeitungs- und überhaupt eine Medienfreiheit existiert in der Türkei kaum noch. Ihre Zeitung "Cumhuriyet" aber ist, soweit ich weiß, noch nicht geschlossen worden. Spielt da die internationale Solidarität eine Rolle? Zur Information vielleicht eben: "Cumhuriyet" ist eine der ältesten Tageszeitungen der Türkei. Sie hat am 22. September den Alternativen Nobelpreis erhalten. Also meine Frage: Spielt die internationale Solidarität eine Rolle? Wie sieht es aus mit Ihrer Zeitung?
Can Dündar: Die internationale Solidarität spielte eine sehr große Rolle, insbesondere nach dem letzten Putschversuch sind ja über 100 Presseorgane geschlossen worden, und die Zahl der inhaftierten Journalistinnen in den türkischen Gefängnissen ist von 30 auf 130 gestiegen. Das ist eine rasant eskalierende Tendenz, und da brauchen wir definitiv internationale Solidarität, um das aufzuhalten.
Gutzeit: Die Frage jetzt noch mal ganz konkret nach dieser Zeitung sozusagen und nach den Bedingungen, unter denen auch die Kollegen dort jetzt arbeiten.
Can Dündar: Im Prinzip arbeiten wir wie in einer belagerten Burg, die nämlich tatsächlich physisch von der Polizei umstellt ist, unser Redaktionsgebäude, und wir müssen jeden Tag von der Zeitungsredaktion zum Gerichtssaal und zurück. Es gibt unglaublich viele Anklagen, die gegen uns gerade verhandelt werden, und natürlich gibt es auch sehr viele Drohungen. Unter diesen Bedingungen versuchen wir, unsere Arbeit zu machen.
Yücel: "Die Situation für uns ausländische Korrespondenten ist schwierig"
Gutzeit: Denis Yücel, Sie sind in Deutschland geboren als Sohn türkischer Eltern. Sie haben die türkische wie die deutsche Staatsbürgerschaft, soweit ich weiß, Sie haben Politikwissenschaften studiert, und Sie haben das hoch gelobte Buch "Taksim ist überall. Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei" geschrieben, erschienen bei Nautilus. Sie sind Journalist, und wenn diese Information stimmt, dann hat die Zeitung, die Sie in die Türkei als Korrespondent geschickt hat, Sie wieder abgezogen, weil es zu gefährlich wird. Stimmt diese Information?
Deniz Yücel: Nein, das war - diese Falschmeldung kursierte zeitweise, und zwar Folgendes: Das war nach einer Pressekonferenz mit Angela Merkel und Ahmet Davutoglu in Ankara, da habe ich eine Frage gestellt, was man als Journalist so macht. Und aufgrund dieser - und das wurde in der Türkei so derart hochgejazzt - auf der einen Seite die AKP-nahen Medien, die am nächsten Tag mich dann auf die Titelseiten gebracht haben mit dem Etikett "PKK-Anwalt", was in der Türkei in diesen Tagen auch eine lebensgefährliche Zuschreibung ist, und auf der anderen Seite kritische oppositionelle Journalisten, die mich wirklich beglückwünscht haben, weil in dieser Form in der Türkei Ministerpräsidenten oder der Staatspräsident nicht mehr gefragt werden.
Sie bekommen keine kritischen Fragen mehr gestellt, die dann auch live in vielen Sendern übertragen werden. Das war die Situation, und am Ende hat mich dann meine Chefredaktion auch auf Anraten der Deutschen Botschaft für eine Weile aus Istanbul abgezogen. Ich war dann eine Weile, ein paar Wochen in Deutschland und bin dann aber wieder zurück nach Istanbul, und seit März lebe ich wieder in Istanbul, wie jetzt insgesamt seit anderthalb Jahren.
Deniz Yücel, Türkei-Korrespondent der WeltN24-Gruppe, in einer Gesprächsrunde auf der Frankfurter Buchmesse
Deniz Yücel auf der Frankfurter Buchmesse 2016 (Deutschlandradio/ Nils Heider)
Gutzeit: Wie kann denn die Berichterstattung unter diesen Gesichtspunkten überhaupt funktionieren?
Yücel: Sie geht. Also ich glaube, die ausländischen Korrespondenten sind nicht die größten Leidtragenden der mangelnden Pressefreiheit in der Türkei. Zum einen glaube ich, dass wir noch immer, auch wenn die Situation schwieriger wird, aber noch immer genießen wir einen - glaube ich, dass wir einen gewissen Schutz genießen durch die europäischen Regierungen, durch die Bundesregierung in meinem Fall. Und zum anderen, und ich glaube, das ist noch viel wichtiger, was mir nicht passieren kann, was den anderen ausländischen Kollegen nicht passieren kann, ist, dass meine Zeitung geschlossen wird, dass eine Polizei-Armada in die Redaktion geschickt wird und die Zeitung einfach dicht gemacht wird.
Oder am nächsten Tag erscheint von einem anderen Personal gemacht, mit einer völlig anderen inhaltlichen Ausrichtung. Meine Zeitung kann nicht enteignet werden, auch wenn es der Springer-Verlag ist. Aber weder Springer noch der "Guardian" noch die BBC noch - die sind außerhalb der Reichweite des türkischen Regimes. Deswegen ist die Situation für uns ausländische Korrespondenten, auch, wenn sie schwierig ist, beileibe nicht so schwierig wie die Situation für die türkischen Kollegen bei der "Cumhuriyet" oder anderswo.
Gutzeit: Aber Sie könnten natürlich sozusagen des Landes verwiesen werden. Das ist durchaus möglich, wenn es dann irgendwo aneckt?
Yücel: Ich als doppelter Staatsbürger eigentlich nicht. Aber es gibt in der Türkei auch dafür keine Garantien mehr. Die Türkei hat einen Staatspräsidenten, der so vor aller Augen offensichtlich die Verfassung bricht und missachtet, so, dass es auch dafür keine Garantie gibt. In meinem Fall, rein rechtlich wäre das nicht möglich, dass ich als Bürger dieses Staates ausgewiesen werde. Aber darauf kann man sich in der Türkei im Moment genauso wenig verlassen wie auf irgendetwas anderes.
Kontny: "Das Literarische Schaffen passiert immer noch - unter dem Radar"
Gutzeit: So, jetzt muss der Oliver Kontny umswitchen, denn jetzt frage ich ihn auch gleich noch was. Es ist eine schwierige Rolle, in der Sie sich befinden, aber Sie machen es sehr gut, finde ich. Wir haben gerade gehört, politische Berichterstattung - für die Medien, die dort sind, sozusagen die türkischen Medien, ist es unglaublich schwer.
Man muss ja auch überlegen, dass viele von diesen Menschen in die Arbeitslosigkeit jetzt gedrängt werden und sozusagen nichts mehr verdienen. Das ist ja wirklich eine schwierige Situation. Die Korrespondenten können immer noch sozusagen Berichterstattung leisten. Wird viel, was jetzt Kultur-, Kunst-, Literaturproduktion angeht - wir beziehen jetzt auch mal die Schriftsteller, die Kulturschaffenden mit ein - ins Netz eigentlich verlagert nach Ihren Beobachtungen?
Oliver Kontny, Historiker, Turkologe, Autor und Übersetzer/Dolmetscher
Oliver Kontny auf der Buchmesse in Frankfurt 2016 (Deutschlandradio / Jelina Berzkalns)
Kontny: Jein. Ich glaube, insofern ist das richtig, als dass viele Menschen als Literaten und Literatinnen gar nicht mehr ihr Brot verdienen konnten, wie in vielen anderen Ländern auch, und die haben sich auch publizistisch betätigt. Das ist dann sehr schwierig geworden, weil Zeitungen geschlossen werden oder sich das Ganze eben ins Netz verlagert. Und dann kommt noch die Repression dazu. Aber das literarische Schaffen selbst passiert eigentlich immer noch so ein bisschen unter dem Radar und ist unangetasteter als jetzt zum Beispiel das Theater- oder Filmwesen.
Dündar: "Wir haben die besten Gehirne immer eingesperrt"
Gutzeit: Can Dündar, wir kommen jetzt mal auf Ihr Buch: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie aus dem Gefängnis heraus viele Artikel veröffentlichten und dort auch dieses Buch auf Gefängnis-Bestellzetteln sozusagen verfassten, auf so kleinen Zettelchen. Und Sie bezeichnen das Gefängnis als "fruchtbaren Ort für Literatur und Geistesarbeit, ganz in der Tradition der Gefängnisliteratur etwa eines Nâzim Hikmet. Über den Dichter haben Sie ja auch eine Biografie verfasst. Orhan Kemal, Kemal Sahin oder Sabah Hatin Ali. Aber ich habe das Gefühl, wenn Sie diesen Begriff gebrauchen, also Gefängnis als fruchtbaren Ort für Literatur und Geistesarbeit, ist das nicht ein bisschen zu idealistisch? Denn Sie waren, habe ich das Gefühl, ein recht privilegierter Gefangener. Man hat Sie fast mit Glaceehandschuhen angefasst.
Dündar: Jasar Kemal hat gesagt, dass die Gefängnisse in der Türkei eine Universität sind. Und tatsächlich haben wir viele erfolgreiche Studienabgängerinnen aus dieser Universität in der Türkei gehabt, die eigentlich zu den besten Beschreibungen der türkischen Gesellschaft gehören, weil wir einfach auch immer unsere besten Gehirne eingesperrt haben, sodass wir damit aufgewachsen sind, die beste Literatur eben wirklich als aus dem Gefängnis produzierte zu lesen.
Und ich bin natürlich ein bisschen zu spät geboren, und habe es gerade noch geschafft, den Zipfel dieser Tradition zu ergreifen. Und dazu kommt noch, dass ich jetzt in Einzelhaft war, während früher eben die Gefangenen in Großraumzellen untergebracht waren. Aber trotzdem fühle ich mich als Teil dieser Familie und deswegen auch nicht alleine.
Dündar: "Der Quell von vielen kulturell wichtigen Aktivitäten."
Gutzeit: Vielen Kollegen wie wohl auch der inhaftierten Schriftstellerin Asli Erdogan mag es in diesem Riesengefängnis - ich weiß nicht, sie sitzt, glaube ich, in einem anderen Gefängnis, nicht in dem, wo er drin gesessen hat, aber bei Istanbul - gar nicht so gut gehen. Dort, in diesen Gefängnissen sind zum Teil 15.000, 10.000 Gefangene untergebracht.
Was ich jetzt meine, ist, dass vielleicht die Bedingungen sich doch etwas geändert haben, unter denen Literatur und Geistesarbeit in Gefängnissen stattfinden kann. Sie schreiben ja, ich zitiere Sie: "Die Staatsräson des 21. Jahrhunderts hat das fruchtbare Gefängnis der vorangegangenen Epoche durch Sarkophage aus Beton ersetzt und nicht nur eine Tradition ausradiert, sondern auch seine Kunst, seine Poesie, seine Literatur, seine Malerei, seine Lieder."
Dündar: Ja, das stimmt schon. Ich glaube, dass die Gefängnisse in der Türkei im Moment der Ort mit der höchsten Alphabetisierungsdichte in der Bevölkerung sind, und daher eben auch eigentlich der Quell von vielen kulturell wichtigen Aktivitäten. Natürlich sind sie dazu da, um denkende Menschen von der Gesellschaft zu abstrahieren, um sie zu vereinsamen, um ihren Widerstand zu brechen. Aber es sind eben auch Menschen, die das alles schon wussten und in Kauf nehmen und deren Widerstand eben nicht so leicht gebrochen werden kann, sondern die vielleicht auch noch entschlossener werden.
Ich habe gerade mit dem Rechtsanwalt von Asli Erdogan gesprochen, und der hat mir erzählt, dass sie bei seinem letzten Besuch ein bisschen bitter aussah. Und da hat er sie gefragt, na, heute geht's dir wohl nicht so gut, woran liegt es? Und sie hat gesagt, ja, ich habe gelesen, dass in Kolumbien durch ein Referendum die Friedensgespräche sabotiert wurden. Und das hat sie unglaublich aus der Bahn geworfen. Das heißt, man sieht, dass selbst unter diesen Umständen sie noch eine Frau ist, die sich für den Weltfrieden engagiert und die sich um diese Probleme Gedanken macht. Und es ist natürlich sehr schwer, einen solchen Menschen in die Knie zu zwingen.
Kontny: "Die Literatur wird deformiert"
Gutzeit: Asli Erdogan, das möchte ich Ihnen jetzt nicht vorenthalten, konnte eine Botschaft aus dem Gefängnis bei Istanbul herausschmuggeln, und sie wendet sich an uns und an die Frankfurter Buchmesse mit folgenden Sätzen, also zwei nehme ich jetzt raus: "Hier in meinem Land lässt man mit unvorstellbarer Rohheit das Gewissen verkommen, aber die Literatur hat es immer geschafft, Diktatoren zu überwinden." Wir hoffen mal, dass sie Recht behält und es nur eine Phase ist, diese Form der Verfolgung.
Oliver Kontny, wenn wir noch einen Augenblick bei Kunst, Literatur und kulturellem Leben auch bleiben - Sie haben ja Essays und Vorträge gehalten, geschrieben, und sind auf Bedrohung, Verfolgung, Gefängnispublikationen, Auftrittsverbote eingegangen, die eben in der Türkei herrschen, und in zunehmendem Maße, gerade im Moment, im Verlauf sozusagen oder im Nachhinein dieses Militärputsches, dieses gescheiterten - für mich ist die Frage: Wird nicht Kunst, Kultur, Literatur deformiert auf die Dauer durch so eine Situation, wo man sich ständig irgendwo - das ist an Sie beide eine Frage -, wo man sich ständig im Widerstand sozusagen befindet. Welche Chance ist da eigentlich noch, das Spektrum der Literatur, der Publizistik, wie auch immer, sagen wir mal Literatur-, des Kultur- und Kunstschaffens auszuschöpfen?
Kontny: Ich kann mir auf Anhieb einige Gesichter von Schriftstellern und Schriftstellerinnen vorstellen aus der Türkei, die jetzt sagen würden, ja, deformiert wird sie, aber sie wird auch formiert durch diese Bedingungen. Und ich glaube, das ist ja in anderen Gesellschaften auch nicht anders. In der Türkei ist das interessante Thema, dass sehr viele Autoren der jüngeren Generation sich eben in den sozialen Medien oder sozusagen im Alltag sehr politisch kritisch äußern und sich gleichzeitig das eigentliche literarische Schreiben aber frei halten als einen Bereich, wo sie dann eben nicht nur politische Kampfliteratur produzieren.
von links nach rechts:  Can Dündar, ehem. Chefredakteur der türkischen Zeitung "Cumhuriyet", Oliver Kontny, Historiker, Turkologe, Autor und Übersetzer/Dolmetscher, Deniz Yücel, Türkei-Korrespondent der WeltN24-Gruppe
Gesprächsrunde zur Meinungsvielfalt in der Türkei während der Frankfurter Buchmesse 2016 (Deutschlandradio /Jelina Berzkalns)
Gutzeit: Ganz kurz Denis Yücel dazu eventuell, also, was macht das mit Publikationen, was macht das mit Journalisten und Schriftstellern nach Ihrer Beobachtung?
Dündar: "Die Literatur wird zukünftig eine viel größere Rolle einnehmen"
Dündar: Ich glaube, das muss man da klar trennen, weil ich glaube, Publizistik - Oliver, wie er das gerade gesagt hat, Publizistik und die sozialen Medien - sozusagen jeder sein eigener Publizist ist. Das ist etwas, was das Regime sehr genau beobachtet. Es sitzen sowohl bekannte Autoren, Publizisten als auch Studenten, Schüler, die irgendwas auf Twitter geschrieben haben, sitzen zuhauf - wurden verhaftet oder festgenommen, erfahren Repressalien. Also das ist ein Bereich, der sehr stark unter Kontrolle ist, während die klassische Kunst, die Literatur etwas ist, was bislang zumindest so als letzte Nische unangetastet bleibt.
Und ich könnte mir vorstellen, dass in der - wenn die Entwicklung so weitergeht, wie sie jetzt, wie man aus den letzten zwei, drei Jahren schließen muss, dass diese Bereiche, wo man sich öffentlich äußern kann, dass die immer enger werden, dass die Literatur eine viel größere Rolle wieder einnehmen wird, wie wir sie auch aus der Vergangenheit aus totalitären Regimen auch kannten, dass das ein Bereich ist, wo eher noch sozusagen als Nischen der Dissidenz dann übrig bleiben, eine Rolle, die die Literatur in dieser Form in der Türkei im Moment noch nicht hat, weil es andere Bereiche der Äußerung gibt. Aber es kann sein, ich könnte mir gut vorstellen, dass die Entwicklung in so eine Richtung geht.
Gutzeit: Vielen Dank. Wir schließen mit den Worten Can Dündars in seinem Buch "Lebenslang für die Wahrheit": "So isoliert, anti-westlich und totalitär die Türkei als Land ohne Europa wäre, so einfarbig, selbstbezogen und ineffizient wäre Europa als Kontinent ohne die Türkei." Das heißt, er meint eben, es ist Solidarität notwendig.
Er meint auch, die Türkei hätte eigentlich in die EU gemusst, dann wären viele Probleme vielleicht vermieden worden, und man hätte auch nach dem Militärputsch schneller reagieren müssen, um seine Solidarität zu beweisen, dass eben sozusagen dieses Land nicht abdriftet. In diesem Sinne, ich bedanke mich herzlich bei Can Dündar, Denis Yücel und Oliver Kontny für dieses Gespräch hier auf der Messe.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.