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Presseschau
"Märchenhafte Ausreden"

Der Absturz des Linienflugs MH17 über der Ostukraine beherrscht die Kommentare der internationalen Zeitungen. Dabei wird besonders auf die Rolle Russlands geblickt - von einer Zwickmühle für Moskau ist die Rede, von der "Unaufrichtigkeit des Kreml" und auch von "naiven Putin-Verstehern".

    Auf einem Tisch liegen deutsche Tageszeitungen so versetzt, dass jeweils nur der Titel zu lesen ist, ganz vorne "Die Welt", "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und "Süddeutsche Zeitung"
    Kommentare aus deutschen Tageszeitungen (dpa / Jan Woitas)
    "Russlands Präsident Putin befindet sich – was die Ukraine betrifft – zum ersten Mal in einer ernsthaften Zwickmühle. Bis jetzt hat er es immer irgendwie geschafft, sich aus seiner Verantwortung für die eskalierende Gewalt heraus zu mogeln. Nach dem Flugzeugabsturz glaubt jedoch kaum jemand mehr an die märchenhaften Ausreden des russischen Präsidenten. Moskau muss also mit einer weiteren Verschärfung von westlichen Sanktionen rechnen. Und die scheinen für Russland viel schmerzlicher zu sein, als Moskau zugibt",
    vermutet NOVI LIST aus ZAGREB.
    "Putin wäscht seine blutigen Hände in Unschuld",
    meint die in Flensburg erscheinende Zeitung SCHLESWIG HOLSTEIN AM SONNTAG.
    "Doch ohne Unterstützung aus Moskau besäßen die Separatisten keine schweren Waffen, um die Ukraine in einen Bürgerkrieg zu stürzen. Und die malaysische Boeing wurde wohl vom dem russischen Raketensystem Buk zerfetzt. Jetzt wollen Putins Handlanger, deren russisch-nationalistische Akzentuierung unüberhörbar ist, das Gebiet der Absturzstelle kontrollieren. Um die Spuren nach Moskau zu verwischen? Was eigentlich muss noch passieren, bis die naiven Putin-Versteher aufwachen?"
    Die NEW YORK TIMES hält fest:
    "Der Kreml-Chef hat nicht deutlich gemacht, dass er auch den Osten der Ukraine an sich reißen will. Er scheint allenfalls daran interessiert zu sein, die Flammen in diesem Krisenherd brennen zu lassen - auch auf die Gefahr hin, dass dies der russischen Wirtschaft teuer zu stehen kommen könnte. Wenn sich aber tatsächlich herausstellt, dass das Flugzeug von den Aufständischen abgeschossen wurde, dann droht Putin die weltweite Isolation. Damit könnte er gezwungen sein, die Verbindungen zu den Separatisten aufzugeben. Sollte er dies nicht tun, muss er mit viel härteren Sanktionen der empörten Europäer rechnen als bislang."
    Die französische Zeitung LE MONDE überlegt:
    "Putin verfolgt in der Ukraine mehrere Ziele. Er will zum einen, dass Kiew niemals NATO-Mitglied wird. Zum anderen will er das Land daran hindern, sich der Europäischen Union weiter anzunähern. Und er will der Ukraine eine föderale Struktur aufdrängen, die Russland eine Art politisches Mitspracherecht einräumt. Das Problem sind aber nicht einmal unbedingt diese Forderungen. Verhandlungen auf dieser Basis wären durchaus denkbar. Das Problem ist die Unaufrichtigkeit des Kreml. Es ist die Art und Weise, wie er den Konflikt weiter anstachelt, indem er seine Grenze zur Ukraine offen lässt und sich weigert, eine Vermittlerrolle gegenüber den Separatisten zu übernehmen. Man darf hoffen, dass das Flugzeug-Drama Moskau dazu bringt, über die Sinnlosigkeit seiner Politik nachzudenken."
    Die NEUE ZÜRICHER ZEITUNG findet mahnende Worte:
    "Jedem aufmerksamen Medienkonsumenten musste in den letzten Wochen klar geworden sein, dass in der Ukraine ein veritabler Krieg im Gange war, mit Panzern, Artillerie, Boden-Luft-Raketen, Flugzeugabschüssen und Flüchtlingswellen. Doch die Europäer zogen es vor, wegzuschauen - zu abgelegen schien ihnen die Ukraine, zu rätselhaft die Konfliktparteien. Nach dem Abschuss der MH 17 vom Himmel der Ostukraine ist Verdrängen nicht mehr länger möglich. Den 80 Kindern, den Aids-Forschern aus den Niederlanden, den deutschen und englischen Touristen - ihnen allen ist Europa es schuldig, hinzuschauen."