Christiane Florin: Herr Kalkum, wir haben uns vor knapp drei Jahren, 2014, schon einmal für ein Interview getroffen. Damals standen Sie kurz vor der Weihe zum Diakon, also die Vorstufe zur Priesterweihe war das. Sie haben gesagt: "Das ist mein Weg, dessen bin ich mir sicher". Inzwischen haben Sie das Priesterseminar verlassen. Was hat Sie nicht mehr so sicher sein lassen?
Benjamin Kalkum: Man merkt irgendwann, dass die Lebensform, für die man sich entschieden hat, anders ist als das, wofür man glaubte sich entschieden zu haben.
Florin: Klingt kompliziert. Hat es mit dem Zölibat zu tun?
Kalkum: Nein, eher damit, dass es eine Sache ist, sich mit dieser Lebensform im Priesterseminar auseinanderzusetzen, dass man diese Lebensform aber eigentlich noch nicht wirklich lebt. Natürlich lebt man ohne Sexualität auch schon im Priesterseminar.
Florin: Wenn man regelkonform lebt.
Kalkum: Wenn man sagt: "Das machen eigentlich alle, wer es nicht macht, ist selbser schuld". Daran merkt man, dass es nicht allein um Sexualität geht. Den Schritt, aus dieser Gemeinschaft heraus, die einen ein Stück weit getragen hat, den habe ich unterschätzt: einerseits während der Ausbildung in einem Haus zu leben mit vielen anderen, mit denen man sich austauscht, mit denen man eine fast familienähnliche Gemeinschaft bildet, mit allen Höhen und Tiefen und Schwierigkeiten, die Familien mit sich bringen; andererseits auf einmal ganz auf sich alleine gestellt zu sein. Ich würde sagen, das ist ein viel entscheidenderer Unterschied als einfach die Frage: Zölibat ja oder nein? Auch der Zölibat ist Teil einer Lebensform, die viele Aspekte umfasst.
"Ich habe irgendwie den inneren Frieden verloren"
Florin: Das heißt, die Zweifel kamen für Sie, als Sie in eine Gemeinde gegangen sind und da einen Vorgeschmack auf das Leben eines Priesters bekommen haben.
Kalkum: Genau. Da fing für mich die Auseinandersetzung noch einmal völlig anders an.
Florin: Aber es ist doch klar, dass die Zeit im Priesterseminar begrenzt ist und dass man dann in eine Gemeinde kommt und inzwischen als Pfarrer keine Haushälterin mehr hat, Familie ohnehin nicht. Es ist doch klar, dass Sie allein leben müssen.
Kalkum: Ja, natürlich ist das einem klar. Aber es ist sehr schwer, sich das abstrakt vorzustellen. Es sehr schwer, sich vorzustellen, wie es ist, Kinder zu haben. Darüber kann man nachdenken, aber am Ende, wenn es dann passiert, ist es ganz anders, als man es sich vorgestellt hat.
Florin: Wie war die Gemeinde, in die Sie gekommen sind?
Kalkum: Die Gemeinde war super, ein sehr schönes Viertel mit vielen Kindern, mit sehr aufgeschlossenen, interessierten Leuten. Eigentlich funktionierte Kirche dort noch ein bisschen wie eine heile Welt. Das war toll. Die Arbeit hat riesig Spaß gemacht. Da wurden die Erwartungen voll erfüllt bis übertroffen. Aber gleichzeitig war eben doch das Gefühl: Irgendwie habe ich den inneren Frieden verloren.
"Scheitern ist nicht immer etwas Negatives"
Florin: Der Grundgedanke ist, dass der Zölibat einem die Kraft gibt für die Seelsorge und dass die Gemeinde einen trägt, auch über die Einsamkeit hinwegträgt. Stimmt das nicht?
Kalkum: Es stimmt oft. Es ist ein Geschenk, wenn man in Familien aufgenommen wird, wenn man die Kinder taufen darf, wenn man Paare auf die Trauung vorbereitet. Es ist ein Privileg, dort als Kleriker, als Diakon und später als Priester, dorthin kommen zu dürfen und für eine gewisse Zeit fast ein Teil der Familie zu werden. Aber das muss man auch wieder los lassen. Über lange Zeit entwickeln sich wirklich manchmal Beziehungen, dass der Priester wie so eine Art Onkel zur Familie gehört. Das kann bestimmt sehr tragen. Aber dazu ist es bei mir gar nicht gekommen.
Florin: Sie haben sich damals in dem Interview als konservativ bezeichnet. Die Süddeutsche Zeitung hat Sie einmal einen "Vorzeigekatholiken" genannt.
Kalkum: Die Süddeutsche Zeitung hat mich allerdings nie kennengelernt.
Florin: Das las sich aber so. Und wir haben uns ja kennengelernt. Empfinden Sie es als Scheitern, dass Sie diesen Weg nicht durchgehalten haben?
Kalkum: Ich glaube, so etwas ist immer ein Scheitern. Man hat das ja gewollt. Aber - Gott sei Dank - ist in unserer Religion Scheitern nicht immer nur etwas Negatives, sondern etwas, in dem auch ein Potenzial liegt. Und manchmal ist es auch ein Geheimnis des Scheiterns, dass man erst hindurchgehen muss, um dorthin zu kommen, wohin man wirklich gehört.
"Diese Priester sprechen mir nicht aus der Seele"
Florin: In der vergangenen Woche haben Priester des Weihejahrgangs 1967, also Männer, die deutlich älter sind als Sie, über 70, in einem offenen Brief Reformen gefordert, unter anderem eine andere Sprache, den Zugang von Frauen zu Ämtern - da wird es schon brisanter - , das gemeinsame Abendmahl mit evangelischen Christen und schließich ein Ende der Einsamkeit und damit verbunden die Aufhebung des Zölibats. Was halten Sie davon? Sprechen Ihnen diese Priester aus der Seele?
Kalkum: Nein. Da bin ich tatsächlich konservativ. Theologisch teile ich von diesen Positionen keine. Es steht sehr viel Bedenkenswertes, Aufrichtiges und auch Wahres in diesem Brief. Man tut den Priestern unrecht, wenn man das, was sie da mitgeteilt haben, nur auf diese klassischen Reizthemen herunterbricht.
Florin: Aber das sind die Schlüsse, die sie aus der Bestandaufnahme ziehen.
Kalkum: Sie haben noch mehr geschrieben. Aber das sind die plakativen Forderungen, die immer aufs Tablett kommen.
"Der Zölibat geht nicht gut mit dem Lebensmodell "einsamer Mann" zusammen"
Florin: So plakativ ist es ja nicht, den Punkt Zölibat mit der Einsamkeit zu begründen und nicht mit dem Verzicht auf Sexualität.
Kalkum: Sie haben sehr richtig geschrieben, dass der Zölibat, wenn man ihn in einer klösterlichen Gemeinschaft lebt, sehr viel mehr Kraft entfalten kann und dass das im Modell "einsamer Mann" aus ihrer Sicht nicht funktioniert. Das ist bedenkenswert. Da muss man sehen, wie sehr sich das Leben des Priesters, auch des Weltpriesters, verändert hat. Früher hatte man die Pfarrhausgemeinschaft mit dem Priester, der Haushälterin und noch ein, zwei Kaplänen, die miteinander unter dem gleichen Dach gewohnt haben. Das ist etwas völlig anderes als das, wie die meisten Priester heute leben in den Großpfarreien. Die These, dass das Modell Zölibat mit dem Lebensmodell alleinstehender Mann nicht gut zusammengeht, das teile ich.
Florin: Und die anderen Reformvorschläge? Da sagen Sie: Das sind die immergleichen Themen - Frauen, Ämterverständnis? Das ist kein Grund dafür, dass der Priesterberuf wenig attraktiv ist und dass der Glaube wenig interessant ist?
Kalkum: Am wenigstens glaube ich, dass es etwas mit dem Glauben zu tun hat, wenn man irgendwelche strukturellen Reformen umsetzt. Ich glaube, dass es mit der Attraktivität des Priesterberufs wenig bis nichts zu tun hat. Das sieht man auch immer wieder daran, dass die Protestanten, die all diese Reformen schon durchgeführt haben, kaum in einer besseren Position sind. Auch da meldet sich kaum jemand.
"Diakon wäre ich gern gebleiben, aber das geht nicht"
Florin: Das ist ja ein klassisches Argument, das immer genannt wird, aber wenig aussagt. Entweder man hält etwas für richtig oder man hält diese Kirche für gnadenlos. Spricht nicht aus dem, was auch Sie jetzt erfahren haben und was die Priester, die den Brief geschrieben haben, erlebt haben, eine gewisse Gnadenlosigkeit der Institution gegenüber ihren eigenen Priestern? Dass man ihnen keine Wahl lässt: entweder du lebst nach den Vorgaben der Institution oder du bist draußen? Würden Sie sich nicht doch wünschen, Priester zu bleiben?
Kalkum: Nein, Priester nicht. Diakon wäre ich vielleicht gern geblieben.
Florin: Und das geht nicht?
Kalkum: Nein.
Florin: Weil Sie kein Ständiger Diakon geworden sind.
Kalkum: Genau. Man kann nicht aus dem Diakonat, wie es jetzt ist, ins Ständige Diakonat wechseln. Ich bin zum Diakon geweiht und ich kann nicht zum Ständigen Diakon wechseln. Das ist zwar dieselbe Weihe, aber ich habe das Zölibatsgelübde schon abgelegt. Deswegen kann das so nicht laufen?
Der Klerikalismus des Kirchenvolks
Florin: Das empfinden Sie nicht als gnadenlos oder - großes Wort - unmenschlich?
Kalkum: Nein. Mir war ja klar, was ich mache. Und insofern kann ich mich hinterher auch nicht beschweren. Da bin ich tatsächlich in einer etwas anderen Lage als die Priester, die 1967 geweiht wurden, wo man tatsächlich glaubte und auch viele Bischöfe gesagt haben, dass sich das mit dem Zölibat in ein paar Jahren erledigt haben würde. Mir war klar und heute ist jedem klar, der sich zu irgendetwas weihen lässt, klar, worauf er sich einlässt. Dann kann man hinterher nicht die böse Kirche dafür verantwortlich machen. Das erschiene mir irgendwie ungerecht. Was ich gerne tun würde, vielleicht wäre es auch für die Kirche interessant, das wäre ein kleiner institutioneller Schritt: zum Beispiel, das Zölibatsgelübde nicht mit der Diakonenweihe zu verbinden, sondern erst mit der Priesterweihe. Dann könnte die vielen Leute, die sich eigentlich berufen fühlen, für die Kirche zu arbeiten, erst einmal einsteigen in die wirkliche Arbeit, in das wirkliche Leben, auch in die Lebensform, und dann erst die institutionellen Bindungen enger schließen. Dagegen steht natürlich das Interesse der kirchlichen Verwaltungen, möglichst schnell fertige Mitarbeiter zu haben, die man dann in die zahlreichen Löcher setzen kann, wo die Leute darauf warten und fordern, dass sie endlich neue Kleriker vor Ort haben. Da ist auch immer ein latenter Klerikalismus des Kirchenvolkes am Werk, der die Verwaltung unter enormen Druck setzt.
Florin: Diesen Klerikalismus hat man auch in den vergangenen 20, 30 Jahren herangezüchtet, mit interessanten Arbeiten über die Rolle des Pfarrers in der Pfarrei. Ich weiß, dass Sie nicht so gern über den Zölibat sprechen wollen oder dass Sie es nicht darauf reduzieren wollen. Sie haben doch vermutlich selbst die Erfahrung gemacht, dass Sie kein schlechter Seelsorger sind und auch kein schlechter Seelsorger geworden wären, wenn Sie nicht zölibatär leben würden.
Kalkum: Es spricht ja auch nichts gegen nicht zölibatär lebende Seelsorger. Aber was ein Priester ist, ist eine andere Frage, das ist eine tiefe theologische Frage. Wie soll ein Priester in der katholischen Kirche sein? Wofür steht ein Priester in der katholischen Kirche? Das sind Fragen. Ich bin froh, dass ich das nicht entscheiden muss.
"Die meisten möchten Seelsorger werden, nicht Manager"
Florin: Und es gibt keine Spur von Zorn auf die Institution. Sie machen es nur an Ihrer individuellen Entwicklung fest. Sie sagen: Ich bin gescheitert. Und nicht: die Kirche ist an mir gescheitert?
Kalkum: Nein. Ich hätte nichts vorzuwerfen, weder der Institution noch den Leuten, die für die Ausbildung verantwortlich waren. Nein.
Florin: Wenn Sie die Ausbildung zu konzipieren hätten, was würden aufgrund Ihrer Erfahrung ändern?
Kalkum: Ich glaube, als erstes ist festzustellen: Es ist unheimlich schwierig, so etwas zu konzipieren für so unterschiedliche Leute, wie sie sich heutzutage in der Priesterausbildung befinden. Da gibt es die jungen Männer, die direkt vom Abitur kommen, und gestandene Leute, die schon Pilot waren oder eine Anwaltspraxis hatten. Die in ein gemeinsames System zu bringen ist unheimlich schwierig und ich glaube, es ist richtig, dass man sich in der Priesterausbildung um Individualisierung bemüht. Was aber natürlich auch wieder schwierig ist, wenn man sich in einem System befindet, das bestimmte Anforderungen und Erwartungen hat. Ein anderes Spannungsbild ist: Wenn man versucht, die Priesterausbildung zu einer anspruchsvollen Ausbildung zu machen, die auf die alltäglichen Anforderungen vorbereitet, die gerade die Großpfarreien mit sich bringen, dann stößt man bei den Kandidaten auf Widerstand. Die Mehrheit kann mit dem Managerpriestertum nichts anfangen. Die meisten möchten das gar nicht werden. Die möchten Seelsorger werden, Liturge, haben ein traditionelles Pfarrerbild, so wie sie das auch meistens selbst noch kennengelernt haben.
"Da wird auch aussortiert"
Florin: Möchten die auch verehrt werden? Im Sinne von Hochwürden?
Kalkum: Nein. Es gibt natürlich ein paar Freaks. Nein. Leute, die mit einem so schrägen Selbstbild in die Ausbildung gehen, scheitern daran relativ schnell. Da wird auch aussortiert. Meiner Erfahrung nach wird, obwohl der Druck so groß ist, die Zahlen wieder nach oben zu bringen, sich nicht gescheut, Leuten nahezulegen, dass das doch nicht das Richtige für sie ist. Was ich mir gewünscht hätte, was man mehr machen könnte, das ist die Möglichkeit von Weltkirche mehr zu nutzen. Die Leute mehr rauszuschicken in die Welt. Das verlängert die Ausbildung, das ist blöd für die Verwaltung, die länger auf ihre Priester warten muss. Aber es ist wichtig, dass man auf Augenhöhe bleibt. Wenn man die Priesterausbildung so absolviert, wie sie im Moment vorgesehen ist - man beginnt als Abiturient das Theologiestudium, dann Freisemester in Freiburg, München oder Münster -, dann kommt man als Pfarrer in eine Gemeinde, und hat dann mit Leuten zu tun, die in ihrem Lebenslauf zehn Auslandsaufenthalte drin haben, dann ist man kulturell gar nicht mehr auf einer Augenhöhe. Früher war man als Pfarrer Akademiker, da war man mit allen Leuten, auf die es ankam, auf Augenhöhe, aber das ist ja längst nicht mehr so. Und man wächst, die Persönlichkeitsreife...
Florin: Kommt es nur auf Akademiker an?
Kalkum: Nein, eben nicht.
Florin: Haben Sie jetzt schon eine Vorstellung davon, wie Ihr Weg weitergeht?
Kalkum: Nein. Ich arbeite im Moment in der Flüchtlingshilfe, das ist sehr schön.
Florin: In einem kirchlichen Projekt?
Kalkum: Ja, das ist über eine Kirchengemeinde angebunden.
Florin: Sie kommen von der Kirche nicht ganz los.
Kalkum: Ja. Das kann man so sagen. Mal gucken, wie sich das ergibt. Das wird sich vielleicht noch fügen, hoffentlich.
Florin: Herzlichen Dank für das Gespräch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.