Um die fünfzig Jungen müssen es sein, die in dieser hinduistischen Priesterschule vor den Toren Punes Sanskrit-Hymnen singen. Die in weiße Hüfttücher gehüllten Priesterschüler sind zwischen acht und sechzehn Jahre alt. Sie sitzen, die Beine überkreuz, auf dem Boden. Ab und an wirft einer von ihnen einen scheuen Blick auf Mukesh Shashtri - den Lehrer, der von einem kleinen Podest aus die Intonation und die korrekte Aussprache der heiligen Silben überwacht.
Sein Vorgesetzter ist der Leiter dieses Gurukuls - Anil Gupta. Ein Gurukul, sagt Anil Gupta, sei eine religiöse Institution, in der die Schüler fortwährend lebten.
"Schon in der vedischen Zeit, also vor Tausenden von Jahren, lebten Priesterschüler bei ihrem Guru, und zwar von der ersten Klasse an bis sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatten. Ihr spiritueller Lehrer kümmerte sich um ihr Essen, ihre Bekleidung und ihre Erziehung. Er sorgte dafür, dass seine Schüler gesund blieben und dass sie regelmäßig meditierten. Und in gewissen Grenzen stellen wir das Ganze hier und heute nach."
Um die verschiedenen hinduistischen Zeremonien und Rituale korrekt vollziehen zu können, durchlaufen die angehenden Priester eine manchmal nicht nur Jahre, sondern sogar Jahrzehnte währende Ausbildung. Wer von einem angesehenen Institut wie diesem Gurukul in der Nähe Punes angenommen wird, kann sich glücklich schätzen. Der Standard ist hoch und die Absolventen genießen in ihrem späteren Berufsleben großen Respekt.
Hinduistische Zeremonien und Rituale
Einige wenige Einrichtungen bilden inzwischen auch Priesterinnen aus, doch nach wie vor sind die Männer in diesem Metier deutlich in der Mehrzahl.
Manchmal gehen Jungen auch bei einem Priester in die Lehre, während wieder andere sich das Grundwissen durch ein Selbststudium aneignen.
Es gibt Priester, die der shivaitischen oder der vishnuitischen Ausrichtung folgen, deren Hauptgott also Shiva oder Vishnu heißt.
Die Hindu-Religionen bestehen aus vielerlei Glaubensrichtungen, die nicht immer allzu viel gemeinsam haben. Eines jedoch eint die mit Abstand meisten dieser Gruppierungen - die Wertschätzung der heiligen Bücher, der Veden.
Bevor der hinduistische Priester bei einer Geburtsfeier, angesichts einer rituellen Verbrennung oder während des einer bestimmten Gottheit zugedachten Fests heilige Verse vorträgt, haben seine Auftraggeber alle Details mit dem Kandidaten ihrer Wahl besprochen.
Dieser Priester steht in engem Kontakt zu den Ritualspezialisten. So wählt er zum Beispiel die Barbiere aus, die den Männern und Jungen Haar und Bart scheren. Ähnlich verhält es sich mit den Köchen, die das der Kaste, Witterung und dem Anlass angemessene Essen zubereiten. Außerdem hat der Priester das letzte Wort bei der Selektion der Musiker und Sänger, die, je nach Hintergrund, religiöse Volkslieder, dezente Sitarklänge oder Lobpreisungen Ganeshas, Krishnas oder anderer Götter darbieten.
Vor einem Priester, der solche Aufgaben bewältigen kann, liege ein langer, schwieriger Weg, sagt der brahmanische Ausbilder des Gurukuls, Mukesh Shashtri.
"Im Allgemeinen nehmen wir Schüler im Alter zwischen acht und zwölf Jahren auf. Das hat den Grund, dass unser heiliges Wissen, also die Veden, auswendig gelernt und fortwährend rezitiert werden müssen. Und Jungen haben gerade in diesem Alter nun einmal ein besonders gutes Gedächtnis. Wir achten außerdem sehr auf den familiären Hintergrund der Bewerber. Der Bildungsstand der Eltern und selbstverständlich der des betroffenen Kindes sind uns wichtig. Denn wir können unseren Schülern nicht alles beibringen. Sie müssen zumindest unter Beweis stellen, dass sie die zu rezitierenden Inhalte auch verstehen. Das verschafft Kindern aus Brahmanen-Familien natürlich einige Vorteile. Und: Um die Veden korrekt zu deklamieren braucht man eine sehr präzise Aussprache, sozusagen eine besonders klare Zunge. Schon die geringste Variation kann die Bedeutung des jeweiligen Worts verändern."
"Uns ist es auch wichtig, dass es nicht allein die Eltern sind, die ihren Jungen in unserer Schule wissen wollen. Beim ersten Treffen prüfen wir die Kandidaten eingehend - wir schauen uns ihr Verhalten an, ihre Manieren zum Beispiel und die Art und Weise, wie sie sich unseren Lehrern und älteren Personen gegenüber verhalten. Dann hören wir uns an, wie die Betroffenen die heiligen Silben, die der Priester ihnen vorsingt, wiedergeben. Danach erfolgt die körperliche Untersuchung. Wer all diese Hürden genommen hat, wird für die dreimonatige Probezeit zugelassen. Während dieses Zeitraums sondieren wir die Neigungen der Schüler, ihre Willenskraft und ihren Lerneifer."
Ergänzt der Schulleiter Anil Gupta.
"Die Grundausbildung macht einen Jungen noch längst nicht zum Priester. Um ein wirklich guter und anerkannter Hindu-Priester zu werden, muss der Schüler fünfundzwanzig bis dreißig Jahre aufwenden. Und am Ende muss er die Veden komplett beherrschen."
Weder Alkohol noch Drogen
Die Hindu-Priester dürfen nicht rauchen und weder Alkohol noch Drogen zu sich nehmen. Sie sind gehalten, sich vegetarisch zu ernähren. Wenn sie Brahmanen sind, müssen sie sogar jedweden Kontakt mit toten Tieren meiden, weil die Berührung eines als unrein wahrgenommenen Wesens zu einer rituellen Verunreinigung führt.
Die Schüler im Gurukul setzen sich drei Mal am Tag zum Essen auf den Boden in der großen Versammlungshalle. Jeder hat ein frisches, großes Bananenblatt vor sich, auf das der durch die Reihen gehende Küchenmitarbeiter gewürzten Linsenbrei, Joghurt, Reis, ein Fladenbrot und einen Klecks Gemüsecurry verteilt. Zwischendurch stimmen die Jungen gemeinsam mit den Lehrern heilige Sanskritsilben an.
Wenn diese Gurukul-Absolventen eines Tages qualifizierte Priester sind, werden sie zum Beispiel von Privatleuten in deren Heim gerufen, um das Haus und seine Bewohner zu segnen. Ebenso gut können sie aber auch in großen Hindutempeln auf der ganzen Welt Rituale leiten. Sie führen die Initiation junger Brahmanen in den Status des sogenannten Zweimalgeborenen durch, sie weihen die Prozessionswagen, auf denen die Götterstatuen an gewissen Festtagen transportiert werden oder sie segnen den neuen Riesenjet der nationalen Fluglinie.
Für all dies ist ein profundes Detailwissen nötig. Die korrekte Zusammenstellung der Blumenarrangements für bestimmte Zeremonien, das unerlässliche Räucherwerk, die Wahl der geklärten Butter und die Zusammenstellung der jeweils angebrachten Opfergaben sind nur ein Teil der Finessen, die es einzuschätzen und zu beachten gilt.
"Schüler draußen in der Welt haben oft Probleme damit, sich zu konzentrieren, weil sie dauernd abgelenkt sind. Unsere Jungen hier dagegen haben keinen Fernseher, keine Möglichkeit, Musik zu hören und sie gehen auch nicht ins Kino. Anders wäre der Lehrstoff auch nicht zu meistern. Unsere Schüler müssen enorm viele Details in sich aufnehmen und sie korrekt memorisieren. Dank des Lebens, das sie hier führen, können sie sich voll und ganz den Lehrinhalten widmen."
Doch ob die Zöglinge ihr Wissen in einem Gurukul oder an anderer Stelle erwerben, betont der Priester und Lehrer Mukesh Shashtri, für die Lehrkräfte gelte stets die gleiche Maxime.
"Wenn wir Schüler zu guten Priestern ausbilden wollen, müssen wir mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn ich Gehorsam lehren will, muss ich zunächst beweisen, dass auch ich Gehorsam zeige - etwa älteren Menschen und Vorgesetzten gegenüber. Nur dann werden meine Schüler dieses Verhaltensmuster anerkennen und es internalisieren."
Dem stimmt der Schulleiter Anil Gupta vorbehaltslos zu. Und da sei noch etwas, was für die Ausübung dieses Berufes unerlässlich sei - eine Grundvoraussetzung, die man weder lehren noch lernen könne.
"Wer die Veden studiert und sie hernach ständig zitiert, muss an dieses alte Wissen glauben. Wohin auch immer unsere Priester später gehen, ihr Glaube an die Veden muss tief und unerschütterlich sein und bleiben."