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Printjournalismus
Lieber live senden, statt lesen lassen

Nachrichten, Interviews, Analysen seien besonders interessant, wenn sie live geführt und live konsumiert werden, findet "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt. Dadurch scheint das autorisierte Interview veraltet. Reporter und Interviewpartner sehen das oft anders.

Von Dominik Schottner | 12.10.2017
    Verschiedene deutsche Tageszeitungen liegen auf einem Tisch.
    Ist Lesen out? (dpa / Jan Woitas)
    Bieder sollen Interviews in der "Bild"-Zeitung künftig nicht mehr daherkommen.
    "Ich sehe dort eine Notwendigkeit umzusteuern und diese Umsteuerung findet bei uns statt. Und findet bei uns sehr konsequent statt," sagt Julian Reichelt.
    Reichelt, Chefredakteur aller "Bild"-Marken, will keine von Beratern und Agenten chemisch gereinigten Interviews mehr auf seinen Seiten und in seinen Blättern lesen: "Wir haben dadurch einen ganz massiven Wettbewerbsnachteil, weil wir in einem Livezeitalter leben. Nachrichten, Interviews, Analysen werden in allererster Linie und besonders, wenn sie interessant sind, live geführt und live konsumiert. Und wir bleiben da halt mit unseren Möglichkeiten weit hinter denen der Livemedien zurück, wenn wir uns nur auf das autorisierte Print-Interview einlassen."
    Weil andere in Sachen Interview vielleicht mehr können und auch dürfen, will Reichelt neue Spielregeln. Beziehungsweise: das Spielfeld wechseln.
    "Deswegen steigen wir immer mehr darauf um, Interviews live zu führen, auf unseren Liveplattformen und sie dann nachher mit nem besonderen Dreh für unsere Printplattform, also unsere Zeitung, aufbereiten zu können," findet Julian Reichelt.
    Der Autorisierung durch ein Live-Interview aus dem Weg gehen und später dann Zitate daraus verwenden - klingt clever. Aber auch ein wenig Radio- und Fernseh-ähnlich.
    Interviewpartner sollte Gelegenheit bekommen, sich selbst zu korrigieren
    Ja, die Autorisierung hat ähnliche Beliebtheitswerte wie Donald Trump. Aber bremst sie den Journalismus wirklich so stark aus? Behindert sie den Wettbewerb? Oder sind die Interviewpartner der "Bild" vielleicht nur extra vorsichtig, weil es eben die "Bild" ist? Wir hätten sie das gerne gefragt, vor allem die sechs Parteien im neuen Bundestag. Aber keine davon wollte sich zur Frage äußern, wieso sie Interviews immer noch autorisieren wollen.
    "Ich finde es richtig, Interviews autorisieren zu lassen," sagt Anja Maier, Parlamentskorrespondentin der "taz". "Weil, dass ich es mache, heißt nicht, dass ich alles richtig verstanden habe und auch der Interviewpartner hat das Recht, auch mal Quatsch zu erzählen und das möglicherweise korrigieren zu wollen."
    Maier und die "taz" haben Erfahrung mit der Autorisierung. 2003 druckte sie ein Interview mit dem damaligen SPD-Generalsekretär Olaf Scholz, seine – nicht autorisierten – Antworten geschwärzt. Eine Sternstunde für die "taz". 2013, das Gegenteil: Die FDP gibt ein Gespräch mit ihrem Spitzenkandidaten Philipp Rößler nicht frei - weil sie dessen asiatisches Aussehen im Bundestagswahlkampf nicht thematisieren wollte. Die "taz" druckt wieder nur die Fragen, als Antworten drei Pünktchen: "Was eigentlich als diskursives Interview über Rassismus in der Bundespolitik geplant war, wirkte plötzlich wie ein Verhör von Rassistinnen. Das war ein Gau."
    Autorisierung bleibt ein Dauerthema
    Gegner der Autorisierung verweisen bei solchen Fällen gerne auf die USA oder auf Großbritannien. Da sei das Visier immer offen. Was sie aber nicht sagen: Gedruckte Interviews sind dadurch generell seltener. Die "Süddeutsche Zeitung" wählte im jüngsten Wahlkampf daher einen Mittelweg, erklärt Detlef Esslinger, stellvertretender Ressortchef Inland: "Wir machen in Wahlkämpfen keine Wortlautinterviews mit kandidierenden Politikern. Die bleiben alle, was ich auch verstehen kann, im Kampf und im Angriffsmodus. Sie bieten in der Regel null Reflektion. Sie argumentieren nicht, sondern sie agitieren. Und wir können den Neuigkeits- und Nachrichtenwert in diesen Interviews nicht erkennen."
    Nachvollziehbar. Nur: Dann darf man sich auch nicht beklagen, wenn der freie Raum von YouTube-Stars mit ihren autorisierten Inhalten gefüllt wird.
    Angela Merkel gegenüber ihrer Interviewerin auf YouTube: "Ihr allererstes Interview? Sonst machen sie immer nur Selbstdarstellung?"
    Die Autorisierung - sie bleibt ein Streitthema. Und deswegen rät Anja Maier nach eigener leidvoller Erfahrung zu weniger journalistischer Eitelkeit und mehr Gelassenheit.
    "Ein Interview ist ja kein Anschlag. Man verabredet sich, man verabredet ein Thema, man kann da ja auch mal jemanden überraschen, aber ich habe keine Lust, Leute zu düpieren oder zu überwältigen".