Eine Zeitung ist kein Lehrbuch. Es ist die Aufgabe von Journalisten, nicht nur eine Wahrheit darzustellen, sondern verschiedene Aspekte und Meinungen zu einer Sache zu beleuchten, damit Leser sich selbst eine Meinung bilden können. Oder? Nein, so einfach ist es leider nicht. Denn es gibt eine ganze Menge Phänomene, für die Meinungen irrelevant sind. Man kann sie nur beschreiben und sie bilden vielmehr den Rahmen, in dem wir handeln und uns Meinungen bilden können. Zum Beispiel, dass die Welt keine Scheibe ist.
Dass Medien sich selbst nicht immer dieser Einschränkung bewusst sind, hat zuletzt Prof. Drosten gelernt. Im Interview mit der Onlinezeitung republik.ch erzählt der Virologe, dass er zum ersten Mal die Tragweite des Phänomens der False Balance verstanden hat, also der falschen Balance zwischen der wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung und einzelnen Wissenschaftlern, die irgendwas Gegenteiliges behaupten. Drosten sagt: "Und dann sieht das so aus, als wäre das 50:50, ein Meinungskonflikt. Und dann passiert das, was eigentlich das Problem ist, nämlich, dass die Politik sagt: ‚Na ja, dann wird die Wahrheit in der Mitte liegen.‘"
Der Schaden der "False Balance"
Der Schaden, den diese "False Balance" in der Welt anrichtet, ist immens. Sie verhindert, dass wir als Gesellschaft faktenbasiert handeln können. Ein prominentes Beispiel ist eine Studie des Arztes Andrew Wakefield von 1998, in der er behauptet, dass die MRR-Impfung, also die Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln, Autismus verursache.
Diese Minderheitenmeinung wurde von den Medien damals sehr prominent aufgegriffen und es gab eine regelrechte Panik gegen die Impfung, die zu vielen erkrankten und auch toten Kindern geführt hat. Allein – die Daten dieser Studie waren schwach. Und selbst diese schwachen Daten haben sich als gefälscht erwiesen. Inzwischen darf Wakefield nicht mehr als Arzt praktizieren. Aber die Antiimpfbewegung beruft sich weiterhin auf seine Argumente.
Übersehen wird dabei ein weiteres Element. Diese zwei, drei Wissenschaftler, die ihren Kollegen widersprechen, haben häufig nicht nur keine stichhaltigen Argumente. Es geht oft genug auch um Geld. Wakefield beispielsweise hatte gleichzeitig zu seiner Studie ein Patent auf eine eigene Masernimpfung angemeldet, die er vermarkten wollte. Und Bücher mit "unbequemen" Meinungen verkaufen sich eben sehr, sehr gut.
Es geht nicht nur um Wissenschaft
Das Phänomen der "False Balance" bezieht sich übrigens nicht nur auf wissenschaftliche Inhalte. Ebenso wenig kann man zum Beispiel das Recht der Mehrheitsgesellschaft, diskriminierende Begriffe zu nutzen, den Bedürfnissen der marginalisierten Betroffenen gegenüberstellen. Für die einen geht es darum, ob sie traditionelle Speisen noch so nennen dürfen wie ihre Großeltern – für die anderen geht es schlichtweg um ihre Würde.
Journalisten bemühen sich, alle Aspekte einer Sache zu beleuchten und verschiedene Seiten zu Wort kommen zu lassen – und können im Zweifel zu einer "False Balance" beitragen. Das geschieht, wenn sie einen anderen Teil ihres Jobs vernachlässigen: das Einordnen. Es ist ihre Aufgabe, einzuordnen, wer von wissenschaftlichem Konsens gedeckt ist, wer echte Expertise und Relevanz im Konflikt hat – und wer nur Bücher verkaufen will.
Nach den vielen Lehren aus der Corona-Pandemie würde ich sehr gern viel mehr Journalisten sehen, die diesen zweiten Teil ihrer Aufgabe auch ernst nehmen. Denn auch davon wird gravierend abhängen, wie gut wir durch die Klimakrise kommen werden.