Sina Fröhndrich: Das große Oberthema auf der Hannover Messe ist die Industrie 4.0 - mal wieder muss ich sagen, denn dieser Begriff begleitet uns Jahr für Jahr. Wo aber stehen wir in diesem Prozess? Das konnte ich mit Gisela Lanza besprechen, sie ist Institutsleiterin Produktionssysteme am Karlsruher Institut für Technologie. Frau Lanza, wie weit sind wir bei der Industrie 4.0?
Gisela Lanza: Wir sind schon mitten drin – definitiv! Ich zitiere da gerne einen Kollegen: "Industrie 4.0 ist nicht wie schwanger sein, entweder ja oder nein, sondern das ist ein Prozess." Die Frage ist eher immer, ob Evolution oder Revolution, und es ist beides. Es hängt immer davon ab, wen es betrifft. Jedes produzierende Unternehmen steckt in der Evolution, Schritt für Schritt Richtung Digitalisierung, und wenn ich mein Produkt anschaue, was ich produziere oder herstelle, dann kann es auch sehr leicht passieren, dass mein Produkt von einer anderen disruptiven digitalen Technologie abgelöst wird, und dann ist es für mein Geschäftsmodell, für mein Produkt eine Revolution gewesen. Ob es dann eine gesellschaftliche Revolution wirklich wird, das sehen wir dann wie bei allen klassischen Revolutionen erst hinterher.
Der Versuch, Schnittstellen abzuschaffen
Fröhndrich: Wo, würden Sie sagen, stehen wir jetzt? Sind wir noch eher in der Evolution, oder haben wir auch schon revolutionäre Produkte vielleicht? Wo stehen wir da?
Lanza: Ich glaube schon, dass es einzelne Produkte gibt, die man eigentlich nicht mehr nachfragt. Wenn man schon allein an IT-Programme, auch gerade hardwarelastige Datenverarbeitungen denkt, dann sind die ja über neue Produkte einfach abgelöst. Das sehen wir immer, das ist der technische Fortschritt, Innovation. Die Frage ist, in welchem Ausmaß.
Insgesamt in der Industrie stecken wir definitiv in der Evolution. Wir versuchen, Prozesse immer stärker zu digitalisieren und vor allem die Schnittstellen abzuschaffen. Ich glaube, das ist der wesentliche Unterschied. Es ist ja nicht so, dass wir bis heute gar nicht digital unterwegs sind. Wir haben unsere IT-Systeme, unsere Systeme, die aufeinander aufbauen. Aber wir haben ganz viele Schnittstellen.
Bei Industrie 4.0 geht es eigentlich um die Vernetzung, dass auch fremde Objekte, die nicht vorher definiert worden sind, was sie miteinander reden, dass die miteinander kommunizieren können und hier quasi Regelkreise geschlossen werden können.
"Industrie 4.0" ist wirklich industrielle Wertschöpfung
Fröhndrich: Das heißt, wir werden auch bei der Hannover-Messe 2020/21/22 immer wieder dieses Schlagwort "Industrie 4.0" weiter hören, ohne dass vielleicht der Verbraucher, die Verbraucherin das ganz konkret im Alltag schon mitbekommen?
Lanza: Ich hoffe erst mal, dass wir den Begriff noch lange hören, weil nichts ist schlimmer, als wenn wir jetzt schon wieder dem nächsten Buzzword* hinterherrennen. Industrie 4.0 ist natürlich erst mal ein Sammelsurium von Entwicklungen, aber auch sehr mächtig, und ich finde, man sollte an dem Begriff auch festhalten, weil er vieles dann auch visualisieren kann.
Dass der Endkunde vielleicht dann von der Industrie 4.0 nicht immer direkt was sieht – ich meine, die Beispiele gibt es sehr wohl: individuelle Schuhe, Adidas SpeedFactory und solche Geschichten. Es gibt sehr wohl Schaufensterfabriken, die das dann auch dem Endkunden sehr schön nahebringen. Aber diese ganzen Entwicklungen laufen natürlich in der Industrie. Deshalb heißt es auch nicht "Digitalisierung der Wirtschaft" oder "Digitalisierung der Gesellschaft", müsste man ja sogar sagen, sondern "Industrie 4.0" ist dann wirklich die industrielle Wertschöpfung und das passiert nun mal in den Fabriken. Das heißt, der Normalsterbliche kriegt das sehr wohl mit, wenn er mit Fabriken zu tun hat, wenn er in der Fabrik oder mit der Fabrik arbeitet.
Not bei großen Firmen noch viel größer
Fröhndrich: Jetzt gibt es ja große Fabriken und kleine Fabriken. Sehen Sie da einen Unterschied zwischen, sage ich mal, den großen Industriekonzernen und den kleineren, was die Entwicklung angeht?
Lanza: Natürlich. Man kann schon sagen, dass sehr große Fabriken sehr viel mehr Aufwand investieren in die Digitalisierung, weil die Vernetzung und die Skalierung dann auch größer ist. Gerade wenn wir in der Automobilindustrie schauen, die oft dann eine neue Fabrik auf der grünen Wiese baut, oder eine Halle komplett leeren und dann neue Maschinen reinstellen, ist es natürlich so viel einfacher, da eine Totalvernetzung – Totalvernetzung gibt es nicht, aber eine weitgehende Vernetzung zu erreichen, wie wenn ich gewachsene Strukturen habe, alte Maschinen, neue Maschinen, die miteinander kommunizieren müssen. Von daher haben wir schon sehr große Unterschiede, was nicht unbedingt an der Größe hängt. Aber die Not bei großen ist noch viel größer wie bei kleinen, weil sie auch noch verschiedene Standorte haben, die Fabrik sehr groß verteilt ist.
Bei kleinen sehen wir manchmal, wirklich überraschend, unglaublich tolle Lösungen, weil kleine dann sehr agil und sehr schnell da auch eine Vernetzung darstellen können. Aber Studien zeigen schon, dass gerade der Mittelstand eigentlich hinterherhängt.
Fröhndrich: Jetzt gibt es Kritiker, die bei dem Begriff "Industrie 4.0" sogar von einem Kampfbegriff sprechen, geprägt, um politisch Unterstützung zu bekommen. Sehen Sie diese Kritik?
Lanza: Es war mal ein richtig guter Marketing-Schlager, würde ich sagen. Ich sehe das sehr positiv, dass man dieses Mal verstanden hat, ein schon sehr technisches - es ist ja nicht nur ein technisches Thema; die Leute müssen da auch mitgenommen werden -, aber schon ein sehr industrielastiges Thema in die Gesellschaft zu tragen, und das hat man mit dem Buzzword* geschafft. - Chapeau! - Super!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
* Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes haben wir versehentlich "Passwort" statt "Buzzword" geschrieben. Diesen Fehler haben wir korrigiert.