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Prog-Metal Band Dream Theater
Fünf Freunde auf dem Weg zu alten Ufern

Zuletzt hatten die Urgesteine des Prog-Metal doch einiges an Patina angesetzt, der Sound von Dream Theater war in die Jahre gekommen, die Manierismen der Band und vor allem ihr Hang zum musikalischen Exzess nicht gut gealtert. Jetzt ist mit "Distance over time" das 14. Studioalbum der Pioniere erschienen. Und?

Von Kai Löffler | 03.03.2019
    Vier schwarzgekleidete Männer stehen auf einer Wiese und blicken in die Kamera.
    Geben den Prog-Metal-Thron nicht kampflos auf: Dream Theater (Mark Mayanovich)
    Musik: "Pale Blue Dot"
    Das erste was an "Distance over time" auffällt, noch bevor der erste Ton erklingt, sind die Songlängen: Untypisch für Dream Theater bleibt diesmal alles unter zehn Minuten, eine Handvoll Tracks sogar unter fünf. Und insgesamt ist das Album - zumindest ohne den Bonustrack - mit rund 56 Minuten das kürzeste der New Yorker seit 30 Jahren, seit ihrem Debüt. Nach ihrem kreativen, aber für manche Fans zu weichgespülten Rock-Musical "The Astonishing" haben Dream Theater die alten Knochen abgestaubt und sich einem abgelegenen Landhaus eingenistet. Hier haben sie Musik geschrieben, geprobt, gegrillt, getrunken, geschlafen und aufgenommen. Und offenbar, das hört man den Songs an, sehr viel Spaß gehabt.
    Musik: "Untethered Angel"
    Der erste Track, "Untethered angel" ist in vieler Hinsicht ein typischer Opener für Dream Theater, ein eher straighter Metal-Song mit Prog-Anstrich. Neu ist die druckvolle Produktion, die die letzten Alben im Vergleich klingen lässt wie Demo-Aufnahmen. Alles ist transparent, das Schlagzeug atmet, der Bass ist zur Abwechslung klar zu hören, und Jordan Rudess lässt seine Orgel kreischen, als würde er sich bei Deep Purple bewerben. "Distance over time" ist vor allem eins: Ein Metal-Album mit superben, knochentrockenen Thrash-Riffs. Die Songs sind deutlich fokussierter als man es von Dream Theater gewohnt ist und im Vordergrund stehen Groove und Melodie.
    Musik: "S2N"
    Der Gesang bleibt Geschmackssache. James Labrie legt technisch eine seiner besten Leistungen hin, aber seiner Manierismen sind nicht gut gealtert, besonders sein langgezogener Sirenengesang mit Power-Metal-Anstrich oder die betohnt einfühlsame, gehauchte Schmachtstimme. Da hilft es dann auch nicht, dass die Ballade "Out of Reach" der am wenigsten inspirierte Song des Albums ist.
    Musik: "Out of Reach"
    Während die Instrumente druckvoll und sehr direkt abgemischt sind, ist LaBries Stimme oft künstlich gedoppelt und unter einem Schleier von Studiohall und EQ begraben. Das klingt, als stünde man direkt neben der Band, während der Gesang von der Bushaltestelle gegenüber kommt. Das ist zwar nicht neu, fällt aber durch die ansonsten so gelungene Produktion des Albums besonders auf.
    Vier schwarzgekleidete Männer stehen vor einer Steinwand und blicken in die Kamera.
    Dream Theater klingen so zeitlos wie lange nicht mehr. (Mark Mayanovich)
    Musik: "Pale Blue Dot"
    Der Kernsound von Dream Theater war von Anfang an die Fusion von Siebziger-Prog wie Yes, Genesis und Rush mit modernem Metal. In den letzten Jahren hat die Band das mit Anleihen von zum Beispiel Muse und Evanescence ergänzt, die gerne mal ein bisschen gewollt rüberkamen. Hier kehren Dream Theater gewissemaßen zu ihren musikalischen Wurzeln zurück, also zu Metal meets Sexties und Seventies. Neben Rush bedienen sie sich bei Emerson Lake & Palmer, Deep Purple und sogar den Beatles und klingen damit - ironischerweise - so zeitlos wie lange nicht mehr.
    Musik: "Room 137"
    "Distance over time" ist ein ungewöhnlich diszipliniertes und kompaktes Album, aber deshalb ist aus Dream Theater nicht plötzlich Nickelback geworden. Ohne mindestens ein Prog-Epos geht hier niemand nach Hause, und auf "Distance over time" sind gleich zwei davon: "Pale Blue Dot" und "At Wit's End"; der eine ist eine extrem komplexe, virtuose Suite, der andere eine mitreißende Prog-Hymne.
    Musik: "At Wit's End"
    Allen neun Tracks hört man an, dass die Musik nicht am Schreibtisch entstanden ist, sondern beim Jammen im Proberaum, und dass die Band dabei förmlich Musik geatmet hat. "Distance over time" klingt versiert wie eh und je, aber mit deutlich mehr Energie und vor allem Leichtigkeit. Das ganze Album ist eine Art klangliche und kreative Frischzellenkur, ähnlich wie die letzten zwei der Thrash-Legenden Anthrax. John Petrucci spielt einige seiner besten Riffs und Soli, Mike Mangini klingt so gut wie nie, zumindest seit er bei Dream Theater eingestiegen ist, und auch der Rest der Band - inklusive James LaBrie - war lange nicht so gut. Dream Theater sind zwar in die Jahre gekommen, aber mit "Distance over time" - ihrem stimmigsten Album seit knapp zwei Jahrzehnten - machen die einstigen Prog Metal-Könige klar, dass sie ihren Thron nicht kampflos aufgeben.