Schuld und Sühne
Nach dem Ende der Verantwortung
Von Konrad Paul Liessmann
Der Mensch ist ein freies Wesen. Er ist Urheber seiner Handlungen und deshalb für diese auch verantwortlich. Als mündiges Subjekt ist er schuldfähig: Er muss einstehen für das, was er getan hat. Diese verbreitete Ansicht ist seit geraumer Zeit ins Wanken geraten. Je mehr die moderne Wissenschaft den Menschen als ein durch Gene, Umwelt, das Unbewusste und Hirnfunktionen bedingtes und bestimmtes Wesen erkennt, desto fragwürdiger wird die These, dass der Mensch für all sein Tun verantwortlich sei. Und auch wenn wir bereit sind, Verantwortung zu tragen oder zu übernehmen, fragt es sich in einer komplexen Gesellschaft, in der fast niemand mehr die Folgen seines Tuns überblickt, wer letztlich für menschengemachte Ereignisse und Katastrophen, die viele betreffen, die Verantwortung trägt. Wie steht es unter diesen Bedingungen um die Freiheit des Menschen, seine Verantwortung für andere und seine Selbstverantwortung, und was bedeutet es, angesichts einer zunehmenden Verantwortungslosigkeit noch nach Schuld und nach Sühne zu fragen? Konrad Paul Liessmann, Professor für Philosophie an der Universität Wien, Autor zahlreicher Bücher und Wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech eröffnete mit diesem Essay das 18. Philosophicum, das heute zu Ende geht.