Lob in Rot - The Church of Ketchup
Von Holm Friebe und Rainer Kirberg
Ketchup ist in Deutschland zum aufgeladenen Symbol für alles Schlechte und Banausige geworden, das aus den USA stammt. Im Windschatten des „Coca-Kolonialismus“ wurde er zum Kristallisationspunkt des westdeutschen Nachkriegs-Antiamerikanismus.
Ketchup ist damit gleichermaßen ein rotes Tuch für die Verteidiger der deutschen Kultur gegen die transatlantische Zivilisation und eine „Red Flag“ für Gesundheitsapostel im Gefolge der esoterisch grundierten Ökobewegung, die auf den Schultern der Lebensreform-Bewegung mit ihrer Reformkost aus dem Reformhaus steht. Aber selbst in der Populärkultur(-Forschung) ist Ketchup ein Paria. Allenfalls in den Fotografien von Martin Parr, dem aus Manchester stammenden Chronisten des britischen White Trash und der verblassenden Working-Class-Kultur, die sich in verrottenden Seebädern und verkommenen Funparks verschanzt hat, ist Ketchup (Gott sein Dank!) allgegenwärtig.
In der akademischen Welt dagegen taucht der Ketchup lediglich da auf, wo man ihn am wenigsten vermutet: in der Volkswirtschaftslehre. Als „Ketchup-Inflation“ wird dort nämlich die berechtigte Sorge bezeichnet, dass eine immer weiter aufgeblähte Giralgeldmenge, die sich lange Zeit nicht in entsprechenden Preissteigerungsraten niederschlägt, wenn die Konjunktur sich dreht, plötzlich, auf einen Schlag zu einer unkontrollierten und unkontrollierbaren Inflation führt - gerade so wie Ketchup, der trotz Schütteln lange in der Flasche festsitzt, sich nach einem „tipping point“ mit einem Mal ergießt und den Teller überflutet. Analog taucht der metaphorische „Ketchup-Effekt“ auch sporadisch in den Politik- und Gesellschaftswissenschaften auf. Immer geht es dabei um das Prinzip „Erst zu wenig, dann zu viel“, das sich aus der spezifischen Viskosität ableitet, dem komplexen Wesen des Ketchups aber ansonsten nicht ansatzweise gerecht wird. Das gilt es zu ändern.
Holm Friebe, Jahrgang 1972, ist Gründer und Geschäftsführer der Zentralen Intelligenz Agentur. Als Autor hat er u.a. mit Sasha Lobo in „Wir nennen es Arbeit“ (2006) den Begriff der digitalen Bohème geprägt, mit „Die Stein-Strategie“ (2015) eine Anleitung zum Nichthandeln geschrieben oder hat gemeinsam mit Detlef Gürtler in „Clusterfuck: Warum Katastrophen uns lieben“ (2018) darüber nachgedacht, wie es gelingen kann, weniger zu scheitern. Friebe hat das Kunstdiskursformat „NUN - Die Stunde der Kunst“ initiiert, die Kunstmarktaktion „Direkte Auktion“ erfunden und zuletzt mit „Works on Skin“ Kunsteditionen als Tätowierungen in den Kunstmarkt gebracht.
Rainer Kirberg, Jahrgang 1954, studierte Malerei, Film, Kunstgeschichte und Philosophie. Nach einer Reihe experimenteller und erzählerischer Kurzfilme schrieb und inszenierte er in den 1980er Jahren Spielfilme für das ZDF / Kleines Fernsehspiel. Neben seinen Filmen, in denen er oft auch für Produktion, Ausstattung/Architektur, Kamera und Schnitt verantwortlich zeichnet, realisiert Rainer Kirberg seit den späten 70ern - und verstärkt in den vergangenen Jahren - künstlerische Arbeiten, in denen er mit den Mitteln von Film, Rauminstallation und Performance operiert.