Der Staat der Industriegesellschaft - Ein Nachruf
Der Soziologe Wolfgang Streeck im Gespräch mit Mathias Greffrath
Leere Kassen, hohe Bedarfe. Der Fürsorgestaat steckt in einer Krise. Müssen wir uns von der Idee des Wohlfahrtsstaates verabschieden? Wie sähe aber eine Gesellschaft am Ende dieser Entwicklung aus? Wo sind Wege jenseits von Fatalismus und Zynismus?
Im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung wurden Familien, Gemeinden und kirchliche Caritas zunehmend mit den Aufgaben der Daseinsfürsorge und der Vorsorge für existenzielle Risiken überfordert. Der Staat der Industriegesellschaft zog - wenn auch nicht ohne den Druck von Klassenauseinandersetzungen - seine Legitimation daraus, dass er nun für das sorgte, was bäuerliche Familien und bürgerliche Wohltätigkeit nicht mehr leisten konnten.
Vom Munizipalsozialismus des Kaiserreiches über die Anfänge des Sozialstaats in der Weimarer Republik bis zu den „Goldenen Siebzigern“ wurden Infrastrukturen, Versicherungssysteme und Leistungsverwaltungen der Gesundheit, der Bildung, des Verkehrs aufgebaut. Was früher Charity und Solidarität war, wurde zum Rechtsanspruch - und funktionierte doch nur, weil die vorkapitalistischen Mentalitäten nur allmählich verblassten.
Unter dem Druck der Globalisierung und einer abflachenden Wachstumskurve werden viele dieser existenzsichernden Einrichtungen - städtische Krankenhäuser, Kultureinrichtungen, Sportanlagen, Infrastrukturen - abgebaut oder privatisiert. Der Schuldenstaat kann sie nicht mehr tragen. Gleichzeitig lässt der systemrelevante Individualismus gemeinwohlorientierte Mentalitäten und soziales Pflichtgefühl erodieren: Rechtsansprüche sind kälter als Fürsorge.
Damit entstehen neue soziale Härten und Ungleichheiten, und der demokratische Gedanke, dass die Sicherung des guten Leben nicht der Logik des Profits unterliegen darf, gilt als konservativ oder radikal, und die Einsicht wächst, dass nun jeder für sich selbst sorgen solle.
Mathias Greffrath, Jahrgang 1945, ist Soziologe und Journalist. Er lebt in Berlin, arbeitet unter anderem für die „taz", die „ZEIT" und den Rundfunk. In den letzten Jahren hat er sich in Essays, Hörspielen und Kommentaren mit den sozialen und kulturellen Auswirkungen von Globalisierung und Klimawandel beschäftigt.
Wolfgang Streeck, Direktor emeritus (seit 2014) am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, widmet sich in seinen Arbeiten vor allem Fragestellungen aus den Bereichen Wirtschaft und Politik und deren Wechselbeziehungen. Dabei bedient er sich eines historisch-vergleichenden institutionellen Ansatzes. Streeck, geboren 1946, studierte Soziologie in Frankfurt am Main (unter anderem bei Theodor W. Adorno) und New York und war anschließend als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Münster tätig. Seiner Promotion 1980 in Frankfurt am Main folgte 1986 die Habilitation im Fach Soziologie an der Universität Bielefeld. Mit 16 trat er in die SPD ein, während seiner Studienzeit war er aktives Mitglied im Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) und Mitbegründer des Sozialistischen Büros in Offenbach am Main.
Streeck hat unter anderem eine Professur für Soziologie an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität zu Köln, ist unter anderem Mitglied der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Academia Europaea und der British Academy.