Ines Berwing liest aus und spricht über: "zertanzte schuhe"
Man denkt an Aschenputtel, doch „Die zertanzten Schuhe“ ist ein eigenständiges Märchen der Brüder Grimm. Ines Berwings Band greift peu a peu einzelne Motive eben dieses Märchens auf: ein „spukschloss“, die tanzenden, „durcheinandergeworfenen gliedern“, ebenso „mehrere männer“, „umwerfend schöne walzer übers parkett“, „aufseher“, dreimal auch: „zertanzte schuhe“. Hier artikuliert sich eine Sehnsucht nach vergangenen, märchenhaften Verhältnissen, die im strengen Widerstreit zu aktuellen Emanzipations- und Autonomiebestrebungen stehen. Diese Erinnerungs-, Traum- und Situationsgedichte bergen tiefere Geheimnisse, sie steigen in Anderswelten hinab wie die zwölf Prinzessinnen, besuchen auch eine „Märchenfabrik“, in der romantisch-blaue Anlehnungen, Unterweltbilder (ein Tränenbaum, auch Teufelszunge genannt), und Verse der belarussischen Lyrikerin Valžyna Mort (mit ihrem „Tränenfabrik“-Gedicht) zu einem ebenso utopischen wie real-kapitalismuskritischen Strauß gebunden werden: „der tränenbaum und die tränenfabrik sind zu 50 % / geladene gäste. ich stach meiner not in den hals // bis sie ein notenhals wurde und ich stark. ich war / einem tränenbaumgast nah, um den hals trugen wir 50 % // wir hatten einen fabrikstich, dessen blau uns nur selten / betrog. wir hatten einen beruf. er war blau. // es gab uns also. im träumchen. wir produzierten / 50 % aller tränen und anderen abfall. niemand erschrak“. Erschreckend gut sind diese Gedichte von Ines Berwing, die ihren eigenen Sound gefunden, weiterentwickelt hat, die stets mehrere Ebenen in ihre Lyrik einzieht, die Tradition mitbedenkt, das Phantastische würdigt und - so steht zu vermuten - auch die eigene, ganz persönliche Lebenswelt einbezieht. Ein Wunder.
Ines Berwing, geboren 1984 in Bad Nauheim, lebt als Drehbuchautorin und Lyrikerin in Berlin. Für ihre Lyrik gewann sie unter anderem den Paula Rombach-Literaturpreis, 2019 wurde ihr erster Gedichtband „muster des stillen verkabelns“ vom Haus für Poesie Berlin als eines der besten Lyrikdebüts des Jahres gewürdigt. Zuletzt wurde Berwing mit Stipendien der Roger Willemsen Stiftung und des Berliner Senats ausgezeichnet.