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Progressive-Metal Band Fates Warning
Stumme Schreie und langer Atem

In über 40 Jahren sind sie sich treu geblieben: Das liegt an der unbeirrbaren Vision von Gitarrist und Songwriter Jim Matheos, der gemeinsam mit Ray Alders charakteristischem Gesang den Sound der Prog Metal-Band prägt. Nach langer Pause ist die Band Fates Warning mit neuem Album wieder da - in alter Frische

Von Kai Löffler | 20.12.2020
    Fünf Männer stehen versetzt auf einem Häuserdach. Im Hintergrund befinden sich Schornsteine.
    Produktiv und aktiv wie seit den 90er-Jahren nicht mehr: Fates Warning: Jim Matheos, Michael Abdow, Ray Alder, Joey Vera, Bobby Jarzombek (v.l.n.r.) (Stephanie Cabral)
    Musik: "Disconnected"
    Musik: "Point of View"
    Zweistimmige Gitarren-Leads á la Iron Maiden, komplexe Bass-Grooves und Gesang, der klingt als wären Geddy Lee und Geoff Tate verschmolzen: "Point of View", die erste Single des Albums "Parallels" war 1991 ein kleiner Durchbruch für Fates Warning. Die Band war bis dahin eher ein Insider-Tipp, und überhaupt war Progressive Metal nur eine Randerscheinung. Dabei war Fates Warning nicht neu: "Parallels" war bereits das sechste Album. Ein paar Jahre vorher hatte die Band schon mal einen kleinen Kult-Erfolg mit dem Konzeptalbum "Awaken the Guardian", damals mit Sänger John Arch.
    Musik: "Giant's Lore"
    Gesang in der Stratosphäre
    Fates Warning 1986, das war eine Mischung aus Black Sabbath, Judas Priest und Rush. Doomig, heavy und verspielt, mit sehr hohem Gesang. Für John Arch war "Awaken the Guardian" das letzte Album mit Fates Warning; sein Ausstieg war erst mal ein Schock für die Fangemeinde, sagt Ray Alder.
    Ray Alder: "John Arch war einer meiner Lieblingssänger und Fates Warning war eine meiner Lieblingsbands. Als John die Band verließ, dachte ich: "Pff, es gibt niemanden, der ihn ersetzen kann. Das war‘s mit der Band, so einen Sänger finden die nicht nochmal". Und dann habe ich den Job bekommen und musste ihn ersetzen."
    Mit dem Album "No Exit" wurde Ray Alder 1988 zum neuen Frontmann von Fates Warning - und klang gar nicht so anders als sein Vorgänger.
    Alder: "Damals hat man so hoch gesungen, das war einfach so. Aber mit der Zeit ist mir dann die Erkenntnis gekommen, dass ich den hohen Gesang - wenn überhaupt - lieber nur in bestimmten Momenten einsetze. Das war einfach nicht meine Stimme. Ich wollte lieber richtig singen als nur zu schreien. Auf "Perfect Symmetry" war ein Song, "Static Acts", der war einfach so hoch, in der Stratosphäre, dass es mir fast zu viel wurde."
    Musik: "Static Acts"
    Auf dem Folgealbum "Parallels" dominierte 1991 zum ersten Mal Alders rauchige Bruststimme, die zu einem Aushängeschild der Band wurde. Seitdem ist der Klang noch tiefer geworden, hat mehr Charakter gewonnen.
    Alder: "Mir gefällt, wie meine Stimme jetzt klingt. Ich habe in den Jahren so viel gelernt, durch neuere Songs, anderes Material. Ich fühle mich jetzt sehr wohl, ich bin mir meiner Grenzen bewusst bin damit glücklich. Ich mag meine Stimme jetzt lieber als früher."
    Musik: "Falling"
    Auch die Musik von Fates Warning hat sich weiterentwickelt und nach und nach vom Metal-Sound der 80er entfernt, bis hin zu den elektronischen Experimenten auf den Alben "Disconnected" und "FWX". Danach dauerte es fast ein Jahrzehnt, bis Fates Warning wieder gemeinsam ins Studio ging. Der langjährige Schlagzeuger Mark Zonder, dessen Mischung aus akustischen und elektronischen Drums den Sound von Fates Warning geprägt hat, stieg aus. Der Rest der Band wandte sich anderen Projekten zu. An das Ende von Fates Warning dachte trotzdem niemand.
    Alder: "Nein, wir haben nie darüber gesprochen, die Band aufzulösen. Jeder hat sein eigenes Ding gemacht, ab und zu sind wir getourt, wenn auch nicht viel. Jim hat seine Projekte gemacht, ich habe bei Redemption gesungen, Joey hat bei Armoured Saint gespielt. Und dann haben wir uns endlich wieder getroffen, um eine neue Platte aufzunehmen. Jim hat mir die Songs geschickt, ich habe eine Weile daran gearbeitet. Drei oder vier Songs habe ich auch fertigbekommen, aber irgendwann ist mir aufgegangen, dass die Musik für mich nicht gezündet hat; es hat einfach nicht gepasst. Und das hat auch Jim gemerkt. Daher hat er mich gefragt, ob ich was dagegen hätte, wenn John Arch auf dem Album singt. Ich war natürlich etwas überrascht, aber ich wollte Jim auch nicht ausbremsen. Und das Gute: Es ist ein tolles Album daraus geworden. "
    "Sympathetic Resonance" hieß das erste Album von Arch-Matheos. Die Reunion mit Ur-Sänger John Arch war aber keine komplette Rückkehr zum "Awaken the Guardian"-Sound, sondern ein moderneres Vehikel für Archs druckvolles hohes Register.
    Musik: "Midnight Serenade"
    Gleichzeitig arbeitete Jim Matheos schon am nächsten offiziellen Fates Warning-Album, auf dem wieder Ray Alder am Mikrofon stehen sollte. "Darkness in a Different Light" war 2013 eine Rückkehr auf hohem Niveau; Songs wie "Firefly" und "I Am" verbinden Alders Gefühl für eingängige Gesangsmelodien mit Matheos knüppeligen Gitarrenriffs und einem spektakulären Einstand des neuen Schlagzeugers Bobby Jarzombek. Darauf folgte das sogar noch stimmigere "Theories of Flight" und nun das aktuelle Album "Long Day Good Night": Eine Trilogie, die einerseits an die Ära zwischen "Parallels" und "X" anknüpft, gleichzeitig aber ein ganz neues Kapitel für die Band öffnet.
    Musik: "Now Comes the Rain"
    Diskografie in den Mixer geschmissen
    Seit "Darkness in a Different Light" kann sich Fates Warning nicht mehr so einfach mal eben im Proberaum treffen. Sänger Ray Alder lebt in Madrid, der Rest der Band in den USA. So müssen bei jeder Session Ozeane und Zeitzonen überbrückt werden. Fates Warning ist da nicht alleine: Schon vor zwei Jahrzehnten hat die amerikanisch-britisch-schwedische Supergroup Transatlantic bewiesen, dass Musik sich nicht von Geografie aufhalten lässt, sondern höchstens von einer langsamen Internetverbindung. Oder davon, dass der Kopf der Band irgendwann keine Lust mehr hat.
    Alder: "Ich hoffe, das ist nicht das Ende einer Ära. Bei den letzten paar Alben hat Jim immer wieder zu mir gesagt, dass er nicht weiß, ob er weitermacht. Keine Ahnung, was er danach machen will, aber vielleicht ist dieses Kapitel ja wirklich für ihn abgeschlossen. Keine Ahnung. Auf jeden Fall haben wir uns diesmal von vielen älteren Alben inspirieren lassen: "Parallels", "X"," Inside Out", "Disconnected". Es gibt sogar wieder elektronische Elemente. Wir haben unsere Diskografie in den Mixer geschmissen, auch die neueren Alben wie "Theories" und "Darkness". Als wir angefangen haben, das Album zu planen, haben wir an zehn oder elf Songs gedacht, und dann sind dreizehn draus geworden - immerhin ist es ja auch das dreizehnte Album. Mir gefällt, dass alles sehr unterschiedlich klingt. Ich glaube nicht, dass die Leute Lust auf dreizehn Songs im gleichen Stil haben."
    Musik: "Under the Sun"
    Seit den 90ern ist Gitarrist Jim Matheos fast im Alleingang für Musik und Texte von Fates Warning verantwortlich. Trotzdem ist die Band alles andere als ein Solo-Projekt, sagt Ray Alder. Er selbst schreibt die Gesangsmelodien - und wieviel die ausmachen, sieht man am Kontrast zu den Arch-Matheos Alben. Aber auch die anderen Instrumentalisten sind essenziell für den Sound von Fates Warning, sagt Alder.
    Alder: "Nein, es wäre niemals das gleiche ohne die Leute. Bobby, ich meine wir reden über Bobby Jarzombik, man hört sofort, dass er anders klingt als Mark Zonder. Und Joey Vera am Bass ist einfach so solide; ohne die beiden gibt es keine Band. Im Moment ist es die perfekte Mischung, in anderer Besetzung würde ich das nicht machen wollen. Tatsächlich haben wir das Album geschrieben, bevor die Corona-Pandemie ausgebrochen ist, und Bobby wäre fast auf Tour mit Sebastian Bach gegangen. Das hätte unser Timing zerschossen, und wir hätten erst 2021 ins Studio gehen können. Dann kam Covid, und Bobby konnte seine Drum-Parts doch aufnehmen. Jim und ich hatten sogar überlegt, ob wir uns vielleicht einen anderen Schlagzeuger ins Studio holen, aber wir waren uns einig: Ohne Bobby machen wir das Album nicht. Das ergibt einfach keinen Sinn, weder für ihn noch für uns."
    Fünf Männer sind in blaues Licht getaucht. Sie sitzen auf einer Treppe.
    Jim Matheos, Ray Alder, Bobby Jarzombek, Michael Abdow , Joey Vera (v.l.n.r.) (Stephanie Cabral)
    Bis die Songs von "Long Day Good Night" vor Publikum gespielt werden können, wird es allerdings noch eine Weile dauern. Auf der letzten Tour hat das aktuelle Lineup inklusive dem neuen Gitarristen Michael Abdow jedoch schon mal bewiesen, dass in ihren Händen neues und altes Fates Warning-Repertoire gleichermaßen druckvoll klingen. Die Schreie der frühen Songs sind größtenteils neuen, tieferen Gesangsmelodien gewichten. Alder sagt, es gibt im aktuellen Repertoire keinen Song, den er nicht gerne singt. Auf einen Track freut er sich allerdings immer wieder besonders.
    Alder: "Mein absoluter Lieblings-Song live ist "The Light and Shade of Things". Wenn der vorbei ist, sagen wir uns, okay, jetzt spielen wir noch den Rest der Show. Aber auf diesen Track freue ich mich immer besonders, und ich glaube, das geht den anderen auch so. Der Song macht einfach sehr viel Spaß."
    Musik: "The Light and Shade of Things"
    Die Progressive Metal-Pioniere von Fates Warning blicken auf beeindruckende 37 Jahre Bandgeschichte zurück. Das Album "Parallels", sah aus wie der verdiente Durchbruch in den Mainstream. Das Video zu "Point of View" lief im Musikfernsehen rauf und runter, die US-Tour war ein großer Erfolg und die Kritiken zum Album, auf dem James LaBrie und Kevin Moore von Dream Theater als Gastmusiker zu hören sind - Jahre vor deren Durchbruch, waren herausragend.
    Alder: ""Parallels" war unser erfolgreichstes Album. Und trotzdem sind wir damit nicht mal nach Europa gekommen. Wir sind durch Amerika getourt, und fast jede einzelne Show war ausverkauft. Es war super. Wir waren echt erfolgreich, und dann war auf einen Schlag alles kaputt. Nichts ist passiert. Wir waren frustriert und unglücklich über die Musikindustrie."
    Das Plattenlabel - so geht die Legende - soll damals das Budget überraschend in eine andere vielversprechende Band gesteckt haben: die Go-Go Dolls, vermutet Ray Alder. Die wurden tatsächlich zu riesigen Stars, während Fates Warning unter die Räder kam...
    Ausgestreckter Mittelfinger
    Alder: "Wir haben ungefähr drei Jahre lang nicht mal miteinander gesprochen. Getrennt haben wir uns nicht, aber es herrschte Funkstille. Danach haben wir "Inside Out" aufgenommen, und ich glaube, wir wussten nicht so richtig, was wir mit diesem Album wollten; wir haben uns da ein bisschen verirrt. Und danach haben wir uns gesagt, pfeif aufs Radio, pfeif auf MTV - das war damals noch groß - pfeif auf Hits. Wir wollten einfach ein Album für uns selbst machen und haben gehofft, dass es auch den Fans gefällt. Die Idee kam von Jim, und es war eine echt tolle Idee - für mich ist es das Beste, das wir je aufgenommen haben. "A Pleasant Shade of Grey" ist bis heute mein Lieblingsalbum."
    "A Pleasant Shade of Gray" von 1997 war Fates Warnings ausgestreckter Mittelfinger an die Mechanismen der Musikindustrie. Es gab keine Single, nichts was auch nur ansatzweise Hitpotenzial gehabt hätte und nicht einmal Songtitel. Das ganze Album war eine knapp einstündige Suite, betitelt "Part I" bis "Part XII".
    Musik: "A Pleasant Shade of Gray Part V"
    Das kompromisslos sperrige Album "A Pleasant Shade of Grey" mag für Fates Warning kommerzieller Selbstmord gewesen sein - für Sänger Ray Alder und viele Fans gehört es aber zu den besten der Band. Überhaupt sind die Fans der Band über die Jahrzehnte treu geblieben und kaufen nach wie vor ihre Alben. Keine Selbstverständlichkeit in der aktuellen Musikwelt.
    Alder: "Es ist jetzt total anders. Jetzt gibt es die Streaming Musik, an der man für jeden Klick vielleicht Null Komma Null Null Null Drei Sechs Cent bekommt. Aber so ist es halt, das muss man schlucken. Es bringt nichts, dagegen anzukämpfen. Man kann natürlich die Musik runternehmen. Aber es ist Einkommen. Alle drei Monate bekommen wir den Tantiemen-Scheck, und das läppert sich. Und: In meinem Haus hören wir auch Spotify. Ich kaufe mir zusätzlich auch jedes Album, dass ich höre. Aber es ist so viel einfacher, als jedes Mal aufzustehen, wenn ich Musik aufzulegen will. Es klingt Scheiße, aber was willst du machen. Wir sind alt, und das ist bequem. Aber ja, das ist die Zukunft. Oder besser gesagt: die Gegenwart."
    Fates Warning ist aktuell so produktiv und aktiv wie seit den 90ern nicht mehr. Trotzdem haben die Musiker ihre Nebenprojekte- und Bands. Ray Alder hat vor kurzem ein Solo-Album aufgenommen. Jim Matheos hat letztes Jahr das zweite Arch-Matheos-Album eingespielt und Schlagzeuger Bobbie Jarzombek...
    Alder: "Ja. Er hat mir vor einer Weile Bilder gezeigt, als wir auf Tour waren. Er spielt mit einer Polka-Band, in Texas. Die spielen zum Beispiel beim Oktoberfest in Texas. Ich glaube, er hatte sogar die Klamotten an, die Tracht oder wie das heißt, das ganze Outfit. Und fast jedes Wochenende spielt er in seiner Country-Band."
    Musik: "Only when I breathe" Texas Jamm Band
    Alder: "Und er hat Spaß, Bobby liebt Country Music. Er versucht manchmal, für uns was im Bus zu spielen, das dauert dann so etwa zwei Minuten. Schon witzig."
    Die Texas Jamm Band, Jarzombeks Wochenend-Gig, ist auch nicht irgendeine Country-Kapelle. Immerhin spielen die meisten der Musiker in der legendären Ace in the Hole-Band, der Ex-Band von George Strait, dem "King of Country". Jarzombeks erste Priorität bleibt aber Fates Warning. Songwriting und Zusammenspiel der Band sind heute besser denn je, und Ray Alders Stimme hat das, was sie in der Höhe verloren hat, an Gefühl und Charakter dazugewonnen. Wenn also nicht irgendwann Jim Matheos das Handtuch wirft, ist die Karriere der Progressive Metal Legenden noch lange nicht am Ende. Die alte Wunde, der plötzliche Absturz nach dem größten Erfolg, hat sich inzwischen geschlossen - wenn auch die Narbe noch ab und zu etwas juckt.
    Ray Alder: "Wir fragen uns bis heute, was passiert ist. Wir sind nicht mal nach Europa gekommen. Mit unserem erfolgreichsten Album. Das war damals echt frustrierend. Aber naja, heute geht's uns wieder gut. Wir sind glücklich. Ich meine, ich würde mir wünschen, dass wir Budgets wie in den 90ern hätten, aber das wird es nie wieder geben. Tja, was willst du machen... "
    Musik: "Seven Stars"