Musik: "#Addicted"
"The Wasteland" heißt das aktuelle Album der polnischen Band Riverside. Dessen desolate, postapokalyptische Stimmung hat einen guten Grund. Vor zweieinhalb Jahren lag die Band auf einen Schlag in Trümmern. Gitarrist und Mitbegründer Pjotr Grudzinski besuchte ein Konzert der Winery Dogs, ging nach Hause und starb - völlig ohne Vorwarnung - an einem Herzstillstand. Für Sänger und Bassist Mariusz Duda war der Verlust seines Bandkollegen und Jugendfreunds ein so schwerer Schlag, dass die Zukunft von Riverside erstmal in der Schwebe hing.
Mariusz Duda: "Ich muss zugeben, ich war gespaltener Meinung. Aber dann später wurde mir klar, dass wir auf jeden Fall weitermachen sollten. Natürlich konnten wir nicht so tun, als wäre nichts passiert. Wir haben also keinen neuen Gitarristen in die Band geholt und einfach ein neues Kapitel angefangen. Wir sind jetzt eine andere Band, zwar mit demselben Namen, aber anders. Wir sind ein Trio und für unsere alten Fans gibt es keinen "Eindringling" in der Band. Es ist dasselbe Lineup, aber eine Person weniger. Ich finde das ziemlich ehrlich und es passt zu unserer Grundhaltung, zur Musik und zu den Texten. Wir wollten so weitermachen; das hat unsere Musik verändert und wir waren offen für Veränderungen. Das schlimmste was man als Band machen kann, ist ein Album der Vergangenheit einfach zu wiederholen. Nein. Das war damals, jetzt fängt ein neues Kapitel an mit einem neuen Ansatz, mit neuen Lösungen und noch ein paar Veränderungen. Trotzdem glaube ich, dass der Kern von Riverside erhalten geblieben ist."
Nach Grudzinskis Tod veröffentlichte Riverside das Doppelalbum "Eye of the Soundscape", eine Sammlung älterer, aber bis dato unveröffentlichter Instrumentalstücke, und ging auf weltweite Tour - als Trio mit Gastgitarrist. Der "Titel der Tour war Towards" the Blue Horizon. Der titelgebende Song klingt wie ein Abschied von Riversides verstorbenen Gitarristen.
"Ich vermisse Dich so sehr"
"Wo bist du jetzt, mein Freund. Ich vermisse diese Zeit. Ich hoffe, man kümmert sich dort gut um dich. Und dass du noch immer Gitarre spielen und singen kannst. Ich vermisse diese Zeit - und ich vermisse dich so sehr."
Allerdings stammt "Towards the Blue Horizon" vom vorletzten Album, also vor Pjotr Grudzinskis Tod.
"2014 hab ich eine Tragödie erlebt, ich hab einen sehr engen Freund verloren. Er war auch Musiker, ein Gitarrist aus meiner Heimatstadt und wir haben früher viel Musik zusammen gemacht. Ihn zu verlieren hat mich sehr hart getroffen, und so hab ich diesen Song für ihn geschrieben. Und dann kurz darauf ging nach zehn Jahren meine Ehe kaputt, aber das war nicht alles. Noch ein Freund von mir ist gestorben, hat sich umgebracht. So viel Dunkelheit. Und dann ist 2016 Pjotr gestorben und dann, drei Monate danach noch mein Vater. Mich hat das sehr aufgewühlt. Aber das war nach "Towards the Blue Horizon". Und dann fingen die Leute an auf Facebook Sachen zu schreiben wie "Wow, das passt wirklich zu Pjotrs Tod. Hattest du vielleicht eine Vorahnung?" und so. Nein. Ich hatte einfach zwei Freunde innerhalb von zwei Jahren verloren. Kannst du dir das vorstellen?"
Musik: "Towards the Blue Horizon"
Das aktuelle Album ist noch immer stark gefärbt von der Trauer um den langjährigen Gitarristen. Die meisten Gitarrenparts hat Mariusz Duda übernommen. Vor den Aufnahmen für The Wasteland ging er aber zuerst zweimal für sein elektronisches Soloprojekt Lunatic Soul ins Studio, um deren fünftes und sechstes Album aufzunehmen. Textlich haut er mit Lunatic Soul in eine ähnliche Kerbe wie Riverside, dafür hat er die Musik komplett anders arrangiert. Statt Hammondorgeln, verzerrten Gitarren und Rockgrooves setzt Mariusz Duda hier auf exotische Klänge und Synthesizer, unterlegt mit spärlichen electronischen Beats.
Musik: "Lunatic Soul - Battlefield"
"Ich glaube Riverside machen das was ich "Melancholic Rock" nennen würde. Wir setzen E-Gitarren ein und hier und da ist es von Prog inspiriert, aber die meisten Songs sind melancholische Songs. Lunatic Soul dagegen ist von orientalischer Musik inspiriert. Mehr orientalische Klänge, mehr Electronic, mehr schwarzweiß. Riverside ist für mich bunt, während Lunatic Soul mehr Dunkelheit hat, und mehr Intimität. Ich versuche das zu trennen. Und dann plane ich noch ein drittes Projekt unter meinem eigenen Namen, vielleicht mit akustischer Gitarre. Also vielleicht mit ähnlichen Songs wie bei Riverside und Lunatic Soul, aber wenn auf dem Album fünfzehn akustische Songs, dann bekommt das eine eigene Identität. Es kann zu Problemen kommen, wenn ich anfange zu überlegen, ob ein Song besser für ein anderes Projekt wäre. Ich fange immer mit einem leeren Blatt an, und sage: Dieses Jahr arbeite ich nur an Riverside. Und wenn eine Idee zu sehr nach Lunatic Soul klingt, dann weg damit, nächste Idee. Ich hebe niemals Ideen für später auf, zum Beispiel für Lunatic Soul nächstes Jahr. Stattdessen versuche ich, innerhalb eines Jahres fertig zu bekommen. Und im Jahr darauf fängt dann zum Beispiel das nächste Kapitel von Lunatic Soul an."
In den anderthalb Jahrzehnten seit ihrem ersten Album "Out of Myself" hat sich Riverside musikalisch verändert. 2007 war die Band mit Dream Theater auf Tour, was ihnen viele Fans einbrachte; gleichzeitig wurde Riverside vor allem in die Progressive Metal-Ecke gedrängt, ein bisschen zu Unrecht wie Duda selbst findet. Denn die Polen haben ihren Sound von verspieltem Classic Rock in den letzten Jahren in Richtung Pink Floyd entwickelt, außerdem arbeiten sie zunehmend mit Folk-Anleihen. Das neue Album klingt im Kern noch immer nach Riverside, aber in "The Wasteland" steckt stellenweise mehr Leonard Cohen als Deep Purple.
Vertrauen der Fans
"Ich bin überzeugt, dass uns viele Fans trotzdem folgen werden, weil sie uns vertrauen und hinter uns stehen. Das haben sie vor zwei Jahren gezeigt, als die Band kurz vor dem Aus stand. Aber der Stil passt auch gut zum postapokalyptischen Thema des Albums. Ich wollte eine Geschichte über einen einsamen Reiter erzählen, einen sehr maskulinen Charakter. Und dazu passt es nicht, melancholische Songs wie "Time Travellers" zu singen. Um männlicher zu klingen, wollte ich stattdessen das tiefere Register einsetzen. Das war meine Erkenntnis. Ich muss nicht schreien, um maskuliner zu klingen, ich kann einfach tiefer singen. Es passte einfach zum Kontext, zum Überlebenskampf in einer anderen Welt. Für mich klang das richtig."
Musik: "Guardian Angel"
2001 hat Duda, damals Mitte 20, seine Band in der polnischen Stadt Warschau gegründet, mit drei Freunden: Gitarrist Pjotr Grudzinski, dem Death Metal-Schlagzeuger Piotr Kozieradzki und Keyboarder Jacek Melnicki, der nach dem ersten Album, also vor dem Durchbruch, seinen Platz für Michał Łapaj geräumt hat. Die Musikszene in Warschau war damals vor allem von Pop und Rap dominiert, aber für den jungen Mariusz Duda war Musik eine persönliche - und auch einsame - Erfahrung.
Jeden Monat eine eigene musikalische Welt
"Als Kind habe ich gerne die Augen geschlossen und den Klängen gelauscht. Ich bin vor allem mit elektronischer Musik groß geworden. Als ich zehn war, hab ich außerdem viel Filmsoundtracks gehört, und wahrscheinlich in dieser Zeit ein Gespür für Musik entwickelt, die filmisch klingt. Aber ich wollte meine eigenen Geschichten erzählen, meine eigenen musikalischen Geschichten. Und als ich mit Klavierstunden angefangen habe, wollte ich nie das spielen, was mein Lehrer wollte. Ich war ein Rebell, ich wollte eigene Sachen spielen. Und nach einem Jahr dieser schrecklichen Klavierstunden hab ich beschlossen - oder besser haben meine Eltern beschlossen - mir ein Keyboard zu kaufen, so dass ich meine eigenen Platten aufnehmen konnte. Jeden Monat hab ich um die 90 Minuten Musik aufgenommen, so viel wie auf eine Cassette gepasst hat, 90 Minuten Musik in Mono, und am Ende des Monats hab ich mir dann noch Titel überlegt und ein Cover gemalt. Ich hab also mit den Cassetten jeden Monat meine eigenen musikalischen Welten veröffentlicht. Zwei Jahre lang hab ich das gemacht, daher stehen im Haus meiner Eltern noch viele dieser musikalischen Experimente aus der Zeit, als ich fünfzehn war.
Musik: "The Depth of Self Delusion"
"Musik ist meine eigene, private Therapie. So setze ich mich mit meinen Dämonen auseinander, um mich besser zu fühlen, um glücklicher zu sein, selbstbewusster und erfüllter. Vor allem deshalb mache ich Musik. Ich will meine Gefühle ausdrücken, und außerdem hilft es mir zu überleben, weiterzumachen. Manche Leute können einfach Musik hören, aber ich brauche etwas, das von mir stammt. Deshalb höre seit zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren kaum noch andere Musik. Ab und zu natürlich schon, aber ich würde nie sagen, "ich höre mir jetzt alle Alben von King Crimson, um dann mein eigenes Album aufzunehmen". Meine Musik ist dafür zu eng mit meinen eigenen Gefühlen verbunden."
Duda hat als Bastler angefangen, alles im Alleingang gemacht und tut das mit Lunatic Soul bis heute. Ein radikaler Gegenentwurf zum fetten Band-Sound von Riverside. Pjotr Grudzinski war ein wichtiges Element dieses Sounds, das man imitieren aber nur schwer ersetzen kann, daher hat die Band den Gitarristenposten nicht neu ausgeschrieben. Während an der Musik die ganze Band arbeitet, stammen die Texte von Duda. Er schreibt über Einsamkeit, Selbstzweifel die Schattenseiten der Modernen Gesellschaft und, besonders auf dem aktuellen Album, über Trauer und Verlust. Die Texte manchmal etwas holprig, aber oft persönlich und introspektiv und poetisch.
"Meine Texte haben mehr mit Psychologie zu tun"
"Natürlich sind Texte wichtig, aber das Problem damit ist: Wenn der Text nichts taugt, sagen die Leute, "Oh, schlechter Text, schlechter Text." Aber wenn er gut ist, sagen sie nichts. Manchmal kommt "es passt ganz gut, das ist okay". Aber es gibt Texte, die wirklich fantastisch sind, viel besser als die Musik selbst. Früher hab ich mich auf die Musik konzentriert und erst mal die Melodien ohne Text gesungen. Also der Ansatz von "Dead Can Dance". Machmal mache ich sowas noch bei Lunatic Soul. Aber mir ist auch aufgegangen, dass viele Fans uns wegen der Texte mögen. Ich schreibe immer über Männer im Käfig, weil ich selbst mit Einsamkeit und Depression kämpfe. Und viele Leute überall auf der Welt spricht das an, zum Beispiel auch im Iran. Und ich glaube viele Fans mögen Riverside auch deshalb, weil ich immer versuche über Themen zu schreibe, die mir am Herzen liegen. Ich schreibe nicht über Politik, ich schreibe nicht über Drachen, Könige und gefallene Königreiche. Meine Texte haben mehr mit Psychologie zu tun, wie komme ich mit dem Leben klar, wie werde ich glücklich. Natürlich kann man sagen, das klingt nach Paulo Coelho, und das ist fair. Wenn du weißt was ich meine. Aber manche Texte sind mir einfach sehr wichtig. Zum Beispiel "Discard Your Fear". Ich habe gemerkt, dass das tatsächlich Leuten geholfen hat, dass es ihnen die Angst vor dem Unbekannten genommen hat. Und genau so etwas versuche ich immer zu erreichen."
Musik: "The Day After"
Fast alle Alben von Riverside erzählen eine Geschichte, haben ein Thema oder Konzept. So auch das neue Album "The Wasteland". Texte und Musik ziehen hier so sehr an einem Strang, dass man fast von einer Rock-Oper sprechen könnte.
"Das ist unsere postapokalyptische Geschichte. Die Geschichte, die nach dem Ende der Welt spielt. Und ich habe mir dieses Thema ausgesucht, weil es für uns als Band wirklich gewissermaßen das Ende der Welt war. Das war also meine Hauptinspiration. Und deshalb wollte ich vor allem organische Sounds auf dem Album. So hat man in "Wasteland", im Ödland, am Anfang nur ein Instrument in der Hand: eine alte rostige, dreckige Akustikgitarre. Ich konnte mir nicht vorstellen, in dem Zusammenhang Keyboards oder elektronische Sounds zu hören. Ich wollte zurück zu den Wurzeln, und hab größtenteils auf diesem Instrument geschrieben. Und deshalb ist auch so viel akustische Gitarre auf dem Album. Aber später wird es verzerrt, und in manchen Moment hört man auch eine verzerrte Akustikgitarre. Das betont den rostigen Sound, nach dem das Album klingen sollte."
Musik: "Lament"
Neben Pink Floyd hört man im Sound von Riverside etwas Porcupine Tree, Anathema und unzählige Bands der 70er. Aktuell hört Duda, so sagt er selbst, so gut wie gar keine Musik. Und wenn, dann ist es in der Regel kein Rock.
Zurück zu den Wurzeln
"Es ist schon witzig: Je älter ich werde, desto mehr fühle ich mich zu organischen Sounds hingezogen. Ich hab die akustische Gitarre in die Hand genommen und wollte mich einfach auf das wesentliche konzentrieren, zurück zu den Wurzeln. Wenn ich im Moment Musik höre, dann mehr Beatles als neuere Sachen. Vor zwei Jahren war ich sehr begeistert von Musik wie zum Beispiel dem dritten Album von Bon Iver. Als der anfing mit Gitarrenstimmungen zu experimentieren und all diesem Vokalzeug wie Harmonizern. Das gefällt mir. Mir gefallen auch Sachen wie James Blake, und deshalb hab ich auf dem letzten Lunatic Soul Album ein bisschen mit dem Vocoder experimentiert, das war ein frischer Sound."
Musik: "The Art of Repairing"
"In der Popmusik gibt es solche Exerimente leider fast gar nicht mehr, die Leute stehen nicht auf Vocoder oder experimentelle Vokal-Sounds. Ich finde, das kann sehr frisch klingen - wenn man es richtig einsetzt."
Musik: "River Down Below"
Anfang nächsten Jahres sticht das polnische Trio gemeinsam mit Yes, Steve Hackett, Neal Morse und Haken für die Prog-Kreuzfahrt "Cruise to the Edge" in See. Überhaupt gilt Riverside als große Hoffnung der modernen Prog-Szene. Für Mariusz Duda ist die Band eigentlich nur Prog-inspiriert, kein echter Prog. Andererseits findet er, warum über Musik streiten?
Musik eine Charakterfrage
"Ich würde sagen Musik im Allgemeinen ist nicht mehr so wichtig wie sie es mal war. Ich weiß noch, wenn man vor dreißig Jahren jemanden gefragt hat, welche Musik er hört, dann war das eine Charakterfrage, eine Frage der Identität. Und heutzutage ist das nicht mehr so wichtig. Leute hören Musik, wie sie Spiele spielen. Oder wie sie Sport gucken oder so. Und nicht nur Popmusik, sondern Musik im allgemeinen. Vielleicht ist ja deshalb Hip-Hop so wichtig geworden, weil die Musik einfach zur Tapete für die Texte wird. Und die sind so wichtig wie noch nie. Trotzdem glaube ich aber nicht, dass wir uns in einem musikalischen Ödland befinden, im Wasteland, wie auf dem letzten Riverside-Album."
Auch wenn sie mit ihrem Gitarristen Pjotr Gudzinski ein charakteristisches Element ihres Sounds eingebüßt hat, ist Riverside aus der Katastrophe am Ende stärker hervorgegangen. "The Wasteland" ist das bisher reifste und beste Album einer Band, die zunehmend ihren eigenen Weg beschreitet und ihre Stärken herausarbeitet; vor allem emotionales Songwriting und Mariusz Dudas introspektive Texte. "The Wasteland" klingt gleichzeitig wie ein Abschied und ein Aufbruch. Wohin, das wird die Zukunft zeigen.
Musik: "Vale of Tears"