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Progrock trifft Steampunk

Gut zwei Jahrzehnte lang zählte es für Musikkritiker zum guten Ton, über Vertreter der sogenannten Progressive Rock aus Prinzip schlecht zu schreiben oder sie gleich ganz zu ignorieren. Davon unbeeindruckt hat das Anfang der 70er-Jahre gegründete kanadische Trio Rush bis heute mehr als 30 Millionen Alben verkauft und füllt heute sogar noch größere Arenen als je zuvor. Die bis zu drei Stunden langen Konzerte sind für Fans wie heilige Messen: musikalische Exkurse durch eine lange, stilistisch abwechslungsreiche Bandkarriere zwischen Hardrock, Prog und Bombast-Pop, voller optischer Effekten und garniert mit vielen selbstironischen Videoclips, die auf die einzelnen Songs abgestimmt sind und in denen die Musiker teilweise selber als Schauspieler agieren. Nach fünfjähriger Studiopause haben Geddy Lee (Bass, Gesang), Alex Lifeson (Gitarre) und Neil Peart (Schlagzeug und sämtliche Songtexte) nun ihr 20. Album "Clockwork Angels" aufgenommen.

Mit Fabian Elsäßer |
    Fabian Elsäßer: Mr. Lee, wir sitzen hier in einem Hotelzimmer, haben 15 Minuten Zeit und vor der Tür warten schon die nächsten Journalisten. Sie haben das sicher tausendmal gemacht, aber: Gibt es eine Frage, auf die Sie immer gewartet haben und die nie gestellt wurde?

    Geddy Lee: This one!

    Elsäßer: Na gut. "Clockwork Angels" ist aus meiner Sicht ein erstaunlich kraftvolles, abwechslungsreiches Album geworden. Wie wichtig ist Ihr Coproduzent Nick Rasculinez bei der Verjüngung des Rush-Sounds?

    Lee: Ich finde, Nick ist wie ein echter Beschleuniger für uns, er ist nicht zu bändigen, sehr enthusiastisch. Und dieser Enthusiasmus wirkt schon ein bisschen ansteckend. Vor allem für eine Band, die nicht mehr so ganz jung ist. Die Energie dieses neuen Albums rührt aber glaube ich auch daher, dass wir zuletzt so oft auf Tour waren. Außerdem bringt Nick uns dazu, mehr zu spielen statt weniger, um mehr Ideen zu bekommen. Das heißt aber nicht, dass er unseren Sound zukleistert, er sorgt schon dafür, dass der Trio-Charakter der Band erhalten bleibt.

    Elsäßer: Sie haben nicht viele sogenannte Overdubs, also zusätzliche Tonspuren, verwendet.

    Lee: Nein, nicht so viele. Es ist eine Trio-Platte, plus Orchester! Aber das Orchester kommt uns nicht in die Quere, unsere Instrumente bleiben klar. Nick ist ein Musikliebhaber und ein Rush-Fan und er weiß, wozu wir fähig sind und dazu treibt er uns an.

    Elsäßer: Außerdem geht das Gerücht um, er spräche fließend "Trommlerisch".

    Lee: Yes! Yes! He definitely speaks in drums!

    Elsäßer: How do we have to imagine that?

    Lee: Na ja, da kommt sein Spitzname her: Buuuuschhhhh! It's always: Bladdada-bladdada-boobety-boobety-bouuuujjzz, you know?

    Elsäßer: So beschreibt er Trommelfiguren, Wirbel?

    Lee: Ja, er sagt: Neil, kannst du so was probieren: Blabbm-blabbm-blabbm-Bouuujz. And it works, he sings it all!

    Elsäßer: Ihr Schlagzeuger und Texter Neil Peart schreibt im Pressebegleitheft, dass er diesmal die Literatur-Einflüsse seines ganzen Leser-Lebens in die Song-Texte gesteckt hat, von Voltaire bis Michael Ondaatje. Braucht man einen Abschluss in Literaturwissenschaften, um dieses Album zu verstehen?

    Lee: Das glaube ich nicht. Die Texte sind so geschrieben, dass sie entweder eine einfache oder eine etwas kompliziertere Geschichte erzählen. Das hängt vom Hörer ab. Die Handlung ist aber letztlich nur eine Plattform, auf der wir viele musikalische Ideen entwickeln können. Ich fand es wichtig, dass auch bei einem Konzeptalbum die Songs nicht einfach der Reihe nach dem Text folgen, sondern dass noch jeder Song als Einzelteil etwas wert ist, nicht nur im Zusammenhang mit dem großen Ganzen. Wenn man zum Beispiel einen Song wie "Headlong Flight" herausgreift, hat er eine Aussage, die für sich steht, obwohl er Teil der Geschichte ist. Das trifft glaube ich auf fast alle Stücke dieses Albums zu, auch wenn es ein paar Sackgassen gibt.

    Elsäßer: Wo Sie gerade über "Headlong Flight" sprachen - das war so ziemlich der einzige Moment, in dem ich etwas Rush-Vergangenheit herausgehört habe. Der Anfang erinnert mich jedenfalls stark an "Bastille Day" aus dem Jahr 1975. War das Zufall oder eine bewusste Verbeugung vor der Vergangenheit?

    Lee: Nein, das war beabsichtigt. Wobei, es war so halb zufällig, als wir damit herum improvisiert haben. Aber als wir es dann richtig gespielt haben, haben wir uns mit zugezwinkert und gesagt: "Ja, ich weiß, das klingt wie 'Bastille Day'". Aber der Text handelt von einem Mann, der auf sein Leben zurückblickt. Deshalb schien uns dieses kurze Aufblitzen der Vergangenheit ganz angebracht, weil wir ja selber auf unser Leben zurückblicken. Das passte ganz gut.

    Elsäßer: Ihr Schlagzeuger Neil Peart nennt als einen der Einflüsse für das Albumkonzept die Steampunk-Bewegung. Ich glaube nicht, dass man sich unter Dampfpunk in Deutschland etwas vorstellen kann. Was bedeutet der Begriff?

    Lee: Steampunk ist eine ästhetische Idee. Ein Film wie "Hugo Cabret" zum Beispiel, der erst vor kurzem herausgekommen ist, hat etwas von dieser Steampunk-Optik, auch die beiden Sherlock-Holmes -Filme von Madonnas Ex-Mann, wie heißt er gleich, Guy Richie! Oder ältere Filme wie H. G. Wells' "Time Machine" oder "Die Reise zum Mittelpunkt der Erde". Diese Stimmung hat etwas von Steampunk. Das Aussehen von Steampunk hat seine Wurzeln im viktorianischen Zeitalter, ist aber dennoch voller Erfindungen aus der Zukunft, die viel zu kompliziert konstruiert sind: Jede Menge Maschinerie mit Zahnrädern, Treibrädern und Umlenk-Rollen, Schalthebeln. Total umständlich, überkomplex, und das ist das Lustige daran. Es sind verrückte Maschinen für eine winzige Aufgabe. Etwa eine Maschine, die fast so groß ist wie dieser Raum hier, nur um sich einen Kaffee zu brühen. Es ist eine witzige Ästhetik mit lauter Schnapsideen. Das entspricht auch ein bisschen unserer Eigenwahrnehmung als Band. Einerseits haben wir immer unsere Hardrock-Wurzeln im Blick, aber gleichzeitig versuchen wir immer, uns zu entwickeln. Dadurch klingt unsere Musik dann wohl immer komplizierter als sie müsste. Und zugleich ist sie nie ganz ernst gemeint.

    Elsäßer: Ich glaube, diesen Humor, dieses Sich-nicht-ganz-ernst-nehmen, merkt man jedem Rush-Auftritt an, vor allem bei den vielen Videos, die sie nur für Ihre Konzerte produzieren. Vergangenes Jahr zum Beispiel gab es zum Konzertbeginn einen Kurzfilm über eine Art musikalische Zeitmaschine, den "Gefilter". Dabei sind die Bandmitglieder in einem altmodischen Imbiss zu sehen, und Sie stehen hinterm Tresen als Barkeeper mit jiddischem Akzent. Wer denkt sich diesen Irrsinn eigentlich aus?

    Lee: Tja, wir haben eine kleine Gruppe von Leuten, in der wir mit solchen Ideen herumspielen. Ich selbst gehöre da auch dazu. Die endgültigen Dialoge improvisieren wir für gewöhnlich erst direkt am Drehtag. Vorher versuche ich mit dem Regisseur und meinem Bruder, der bei der Produktion hilft, eine Szenerie zu schaffen, in der wir drei dann später auftreten.


    Elsäßer: Vergleichen wir mal das Konzept von "Clockwork Angels" mit dem wirklichen Leben. Wie hatten Sie sich in der Vergangenheit die Zukunft für Rush ausgemalt? Ist alles noch besser gekommen als erwartet?

    Lee: Oh ja, viel besser! Wenn man als junge Band anfängt, ist es schwer vorstellbar, dass man überhaupt Erfolg hat. Und den misst man noch in kleinen Schritten. Für uns bedeutete Erfolg erstmal, dass wir überhaupt bezahlt werden. Dann, auf Tour zu gehen, dann ein Album aufzunehmen. Dann noch eins. Und Du stellst Dir nie im Leben vor, dass Du 40 Jahre später Dein 20. Album machst und rund um die Konzerte gibst! So etwas kann man sich einfach nicht ausdenken.

    Elsäßer: Also werden Rush immer so weiter machen?

    Lee: Das kann ich nicht sagen, aber auf jeden Fall schon mal das nächste Jahr (lacht).

    Elsäßer: Thank you very much for the interview.

    Lee: My pleasure, nice talking to you.