"Ich musste hier aus dem Satz, da sind zehn Fehler drin, die musste ich finden, und dann musste ich den Satz richtig abschreiben."
Frank Klapproth blättert durch die Seiten seines dicken Aktenordners voll mit Schreib- und Leseübungen. Bis vor ein paar Monaten war der 52-jährige Straßenreiniger funktionaler Analphabet, das heißt, er konnte zwar einzelne Buchstaben erkennen, aber das Lesen fiel ihm so schwer, dass er den Sinn eines Textes kaum erfassen konnte. An diesem Winternachmittag sitzt er im Lerncafé des Projekts "Aufbruch – Besser Lesen und Schreiben" und zeigt seine Fortschritte.
"Da sehen Sie auch die Unterschiede an der Schrift schon, das ist auch jedem aufgefallen, auch in meiner Firma, das die Schrift sich ganz schön verbessert hat. Das sieht man auch, also ich bin der Meinung, man sieht das."
Das sieht man tatsächlich: Während die ersten Sätze in Klapproths Ordner kaum lesbar sind, ist der Text, den er an diesem Nachmittag verfasst hat, gestochen scharf geschrieben.
Gelöste Stimmung im Lerncafé
Bei Kaffee, Tee und Keksen macht Klapproth gemeinsam mit sieben anderen Teilnehmenden seine Übungen. Ihm gegenüber sitzt, über ein Ausmalheft gebeugt, auch ein kleines Mädchen. Es hat seine Mutter ins Lerncafé begleitet. Die Stimmung ist gelöst und das sei sehr wichtig, sagt Manuela von Müller, Projektleiterin von "Aufbruch":
"Das Konzept ist, dass die Teilnehmenden in sehr niedrigschwelliger und sehr freundlicher Atmosphäre, die eben überhaupt nicht an die Schule erinnert, im Lesen und Schreiben besser werden. Die haben ja unterschiedliche Alpha-Level. Und das ist es so, dass immer Material für jede einzelne Person vorbereitet wird, woran sie Spaß haben. Weil das haben sie früher schon erlebt, das sie irgendwas machen mussten, was keinen Spaß macht."
Per App am Handy, am Laptop oder mit klassischen Arbeitsblättern wird hier gelernt. Außerdem ist der Betreuungsschlüssel sehr hoch, was aber vor allem daran liegt, dass die drei Lerncafés in Bremerhaven bisher noch nicht ausgelastet sind. Das Projekt wird vom Bundesbildungsministerium gefördert. Geld sei genug da, sagt von Müller. Die größte Herausforderung sei es vielmehr, die gering literarisierten Menschen zu erreichen.
"Man muss ganz viel Werbung machen, damit eine einzelne Person das über Umwege hört. Es sind ja jetzt nicht Teilnehmer, die viel lesen, man kann also jetzt mit Plakaten nicht viel machen, man kann nur das Umfeld informieren und dann gibt es manchmal jemanden der sagt: 'Du, das wäre doch was für Dich'."
Jahrelanges Versteckspiel der Betroffenen
Außerdem sei Analphabetismus immer noch ein Tabu-Thema in Deutschland. Dabei sind hierzulande rund 6,2 Millionen Menschen davon betroffen, aber nur weniger als ein Prozent der Betroffenen geht in Alphabetisierungs-Kurse der Volkshochschulen oder zu anderen Lernangeboten.
"Bei windigem Wetter wird die Wäsche bald trocken. Punkt. Im Herbst pflügt der Bauer seinen Acker um. Punkt."
Edith Ziencker liest einer der Pädagoginnen im Lerncafé den Text vor, den sie in der vergangenen Stunde bearbeitet hat. Ihre Aufgabe war es, Wörter mit "ck" richtig zu trennen. Ziencker ist 54 Jahre alt, Köchin, und hat jahrelang versucht zu verstecken, dass sie eigentlich kaum Lesen und Schreiben kann.
"Früher hat man immer gesagt, wenn jemand gesagt hat: 'Lies mal vor', hat man immer gesagt, 'Nee, lies Du mal, ich lese etwas langsamer, das geht nicht so schnell.' Und zack haben die Leute das gelesen. Oder mit Schreiben, genau das Gleiche: 'Mach mal so und so.' Ich sag: 'Das kannst Du auch selber schreiben, ich guck dann nach.'" Und zack, haben die Leute das geschrieben. Ja, so kommt man um die Ecke, das sind so kleine Schummeleien. Und andere Sachen wie Einkaufszettel, die kürzt man einfach ab, Hauptsache man weiß selbst, was das ist."
Verletzungen als Vermeidungsstrategien
Typische Schummeleien für Analphabeten, sagt Projektleiterin von Müller. Manche verbinden sich die Hand, um nicht schreiben zu müssen, verletzen sich selbst, um ein Attest zu bekommen. Solche lang eingeübten Vermeidungsstrategien seien oft schwer aufzubrechen.
"Also diese Einstellung gibt's natürlich auch, so eine Resignation, so dass man sagt, was soll ich denn jetzt noch machen? Also, ganz im Gegensatz zu Herrn Klapproth, gibt es Menschen die einfach sagen: Ich habe das so lange geschafft und dieses Trauma mit der Schulbank und Lernenmüssen unter Zwang. Dass sie dann sagen, ich möchte mich jetzt gar nicht darum kümmern, ich schaff das irgendwie und deshalb komme ich auch bis zum Ende damit durch."
Sowohl Frank Klapproth als auch Edith Zienker fiel es aber nicht schwer, ins Lerncafé zu kommen. Sie seien hier inzwischen zu einer Art Familie geworden. Lernen auch bei anderen Aktivitäten zusammen schreiben, zum Beispiel, wenn sie sich Rezepte fürs gemeinsame Kochen erarbeiten.
"Letztes Mal haben wir schön Grünkohl gemacht, denn haben wir einmal gemacht Bolognese und Pasta, dann haben wir im Sommer auch schon gegrillt. Dann hat man auch Leute kennengelernt, die das gleiche Problem haben, dann kann man auch viel leichter damit umgehen. Auf jeden Fall. Das ist das: Wenn man da so alleine ist, dann biegt man sich doch immer wieder raus."
Irgendwann in der Jugend durchs Raster gefallen
Denn zu sehen, dass andere Menschen die gleichen Probleme haben, senkt auch die Scham. Zumal die Lebensgeschichten der Teilnehmenden an diesem Nachmittag alle gemein haben, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrer Jugend durchs Raster gefallen sind. Klapproth zum Beispiel ist von Geburt an auf einem Auge blind und gemeinsam mit seinen sieben Geschwistern in einem Heim aufgewachsen, von dort aus sind sie alle auf eine Sonderschule gegangen.
"Da waren wir 25, 30 Leute in einer Klasse. Hauptsache, Du kommst durch, und da hat nicht so jemand drauf geachtet, ich bin ja auch seit Geburt an blind, und da ist das auch mit meiner Schrift nicht so perfekt gewesen, aber geachtet hat keiner drauf."
Bei Formularen für Behörden zum Beispiel habe ihm immer eine seiner Schwestern geholfen. Trotzdem wuchsen Klapproth irgendwann auch seine Rechnungen über den Kopf, er konnte sie schlicht nicht lesen. Inzwischen ist er wieder schuldenfrei, bezieht nicht mehr Hartz IV, traut sich Behördengänge alleine zu und will, wenn er im Lerncafé genug gelernt hat, seinen Hauptschulabschluss nachholen.
"Ich steige jetzt besser durch, durch die Anträge, die man stellen muss und ja also, ich fühle mich freier, auf Deutsch gesagt."
Auch im Lerncafé sind die Pädagoginnen stolz auf seine Fortschritte:
"Du bist selbstbewusster geworden, ne?"
"JAA!"
"Siehste!"
"Ja!"
"Aber Einiges."