"Ein Optogramm ist das letzte Bild, das sich auf der Retina eines Menschen im Augenblick des Todes abzeichnet. Also das ist das letzte Wahrnehmungsbild, bevor er stirbt. Von daher ist das Optogramm wirklich genau auf der Grenze angesiedelt zwischen Leben und Tod."
Bernd Stiegler widmet sich in seinem Buch "Belichtete Augen" dem Grenzphänomen des Optogramms - jenem geheimnisvollen Zeugen der letzten Dinge einer menschlichen Existenz. Allerdings nimmt der Literaturprofessor von der Universität Konstanz dem Phänomen sogleich das Geheimnisvolle, indem er von der ersten Seite an keinen Hehl daraus macht, dass es die Optogramme gar nicht gibt. Die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts grassierenden Hoffnungen, ein neues Wissensgebiet in der Physiologie und ein neues Tätigkeitsfeld in der Kriminalistik erschließen zu können, sollten sich nicht erfüllen. Stiegler erzählt seine Geschichte der Optogramme nicht von diesen Hoffnungen her, sondern sieht die letzten Bilder auf der Retina als eine Art Realfiktion. Sein Erkenntnisinteresse besteht nicht in der Wirklichkeit, sondern in der Möglichkeit der Optogramme.
Was ich im Folgenden zu rekonstruieren und genauer in den Blick zu nehmen versuche, sind nicht die Optogramme, sondern die Vorstellungen, die sie begleiten. Es geht weniger um den letzten Blick als solchen, als um den Blick auf ihn, weniger um die durchweg unscharfen Bilder als um die Unschärfe, die sich in der Wahrnehmung einnistet.
Stiegler fragt also nicht, wie sich Optogramme zeigen, sondern was sie angeblich zeigen. Auf zweihundertfünfzig Seiten präsentiert er seine Forschungen zum Thema, die sich als äußerst ertragreich erweisen.
Zuerst liefert "Belichtete Augen" ein Stück Wissenschaftsgeschichte, das an Kuriosität kaum zu überbieten ist. So erwies sich der Namensgeber und vermeintliche Entdecker der Optographie, Wilhelm Kühne, als sehr erfinderisch, wenn es darum ging, die Akzeptanz seiner Kollegen zu erhalten. Im Zentrum seiner Bemühungen stand Hermann von Helmholtz, die Autorität der Physiologie im 19. Jahrhundert.
Manchmal sagt ein Experiment mehr als tausend Worte. Ein wunderbar skurriles wie sprechendes Experiment macht in aller Deutlichkeit klar, was bei der Frage der Optogramme auf dem Spiel steht.
Kühne hatte die Idee, den großen Helmholtz durch Optogramme auf der Netzhaut von Albinohasen von der Seriosität seiner Entdeckung zu überzeugen. Dabei mussten die Versuchskaninchen in den letzten Momenten vor ihrem Tod ein Porträt des großen Physiologen anschauen, das sich auf ihrer Retina einbrennen sollte. Die Ergebnisse – Netzhautabbildungen des Konterfeis von Helmhotz – wären Beweis genug für die Existenz von Optogrammen, so Kühnes Gedankengang.
Ich fixierte ein lebendes Kaninchen im Halter, dass der Kopf unbeweglich war. Die Lider waren durch einen federnde Halter geöffnet, in welchem zugleich ein schwarzer Pappstreifen mit einem vier Millimeter weiten Rundloche vor der Pupille befestigt war. So vorbereitet wurde der Kopf etwa zehn Minuten mit einem schwarzen Tuche bedeckt, als dieses wieder entfernt wurde, nach weiteren zwei Minuten vom Rumpfe getrennt, während ich das Auge mit der Hand zudrückte.
"Hat nicht funktioniert. Man hat nur einen Kragen und ein Stück der Nase gesehen, aber man konnte ihn nicht erkennen. Deswegen haben zwar viele Albinohasen ihr Leben gelassen, aber am Ende konnte Hermann von Helmholtz von der Theorie der Optographie nicht überzeugt werden."
Von solchen und ähnlichen wissenschaftsgeschichtlichen Kuriositäten erzählt Bernd Stiegler pointiert und mit trockenem Humor. Dabei behält er sein Erkenntnisziel weiterhin scharf im Blick, wenn er untersucht, wovon die Auseinandersetzungen um Wunschhorizont und Wirklichkeitsgehalt der Optogramme eigentlich zeugt. Im Falle Kühne versus Helmholtz ist es ein Streit um grundsätzliche erkenntnistheoretische Fragen.
Die Optographie ist das Sinnbild einer überkommenen Ordnung der Dinge.
... schreibt Stiegler und geht damit an die Wurzel des heutigen wissenschaftlichen Verständnisses der Wahrnehmung. Demnach nehmen wir nicht fotografisch exakt unsere Umwelt wahr, wie es die Idee der Optogramme nahe legt, sondern der von Helmholtz so benannte "neuronale Mensch" erzeugt die Bilder der Welt, angeregt durch Nervenimpulse, in seinem eigenen Kopf. Die Außenwelt spiegelt sich nicht im Gehirn, sondern wird von ihm konstruiert. Damit waren die Optogramme als wissenschaftlicher Erklärungshorizont erledigt, jedoch nicht die Optographie:
"Das war letztlich der Gedanke, dass das Auge gebaut ist wie eine Kamera, und dementsprechend, weil es nach den Gesetzen der Projektion auch rekonstruierbare Repräsentationen dort gibt, kann man das Auge genau so beschreiben. Auf der anderen Seite gab es keine Ergebnisse. Und so fand ein eigentümlicher Transfer statt. Es ist ja keineswegs so, dass die Optogramme als Phantasma gänzlich verschwunden sind, sondern sie sind in andere Bereiche hinübergewandert."
Damit stößt der Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler in den Kern seines eigenen wissenschaftlichen Kompetenzbereiches vor. In der Literaturgeschichte findet er eine erkleckliche Anzahl von Beispielen für die Verwendung von Optogrammen, die er in drei Gruppen einteilt: Gedankenexperimente, die auf Augenhöhe mit der Wissenschaft fortschreiben, was diese links liegen ließ. Weiterhin dient das Optogramm nach Stiegler als Projektionsraum, als Spielwiese für Phantasmen. Und schließlich finden die letzten Bilder auf der Netzhaut metaphorische Verwendung in der Literatur, wenn vom Medium der Photographie erzählt wird.
Dass ein Foto einer Leiche so stark zu vergrößern ist, bis man ein Optogramm auf der Netzhaut erkennen kann, gehört eindeutig in den Bereich der Fiktion. Stiegler fand diese Idee bei Jules Verne:
In Jules Vernes "Les Frères Kip" spielt das Optogramm eine weniger zentrale Rolle, auch wenn es zu einer Überführung des Täters führt. Die recht schematische Geschichte Vernes schildert, wie die Gebrüder Kip zu Unrecht des Mordes an Harry Gibson, dem Kapitän des Schiffes "James Cook", bezichtigt, am Ende aber durch ein Optogramm entlastet werden. Der treue Bootsmann Hawkins hatte glücklicherweise von dem Ermordeten zwei Fotographien angefertigt, auf deren Vergrößerung sich dann die wirklich Schuldigen, nämlich zwei Meuterer abzeichnen.
Bernd Stiegler ist mit "Belichtete Augen" wiederum ein besonderes Buch gelungen. Die Mischung aus Faktizität, Wissenschaftsgeschichte und Erkenntnistheorie macht es für einen breiten Leserkreis interessant. Stiegler holt mit "Belichtete Augen" sein eigenes Fach aus dem Elfenbeinturm hermetischer Textanalysen und demonstriert, was Literaturwissenschaft zu leisten vermag: ein randständiges Thema aus der Vergessenheit zu bergen und es in ein Netz kultureller Bezüglichkeiten einzubetten, in das der Leser an jeder Stelle eintauchen kann. So verstanden wird Literaturwissenschaft zu einer gesellschaftlichen Decodierungstechnik, die sichtbar macht, wie stark mediale Einflüsse auf die kulturelle Metaphernbildung wirken: So wie Wilhelm Kühne im Rahmen seiner Optographie das Auge als Kamera aufgefasst hat, versuchten die Kybernetiker der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts das Gehirn als Computer zu verstehen, während wir uns heute im Zeitalter des Internets als Netzwerker begreifen. Stiegler versteht es in seinem heiteren Stil, dem Leser zugleich Wirkmächtigkeit und Relativität solcher Metaphern nahe zu bringen, sodass man dem Titel seines Buches "Belichtete Augen" durchaus einen vom Autor sicher nicht intendierten Doppelsinn andichten kann. Einerseits: Das Auge belichten im Sinne einer Fotoplatte. Andererseits: Licht ins Dunkel kulturgeschichtlicher Zusammenhänge zu bringen.
Bernd Stiegler: Belichtete Augen.
Optogramme oder das Versprechend der Retina
S. Fischer Wissenschaft, 256 Seiten, 19,95 Euro
Bernd Stiegler widmet sich in seinem Buch "Belichtete Augen" dem Grenzphänomen des Optogramms - jenem geheimnisvollen Zeugen der letzten Dinge einer menschlichen Existenz. Allerdings nimmt der Literaturprofessor von der Universität Konstanz dem Phänomen sogleich das Geheimnisvolle, indem er von der ersten Seite an keinen Hehl daraus macht, dass es die Optogramme gar nicht gibt. Die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts grassierenden Hoffnungen, ein neues Wissensgebiet in der Physiologie und ein neues Tätigkeitsfeld in der Kriminalistik erschließen zu können, sollten sich nicht erfüllen. Stiegler erzählt seine Geschichte der Optogramme nicht von diesen Hoffnungen her, sondern sieht die letzten Bilder auf der Retina als eine Art Realfiktion. Sein Erkenntnisinteresse besteht nicht in der Wirklichkeit, sondern in der Möglichkeit der Optogramme.
Was ich im Folgenden zu rekonstruieren und genauer in den Blick zu nehmen versuche, sind nicht die Optogramme, sondern die Vorstellungen, die sie begleiten. Es geht weniger um den letzten Blick als solchen, als um den Blick auf ihn, weniger um die durchweg unscharfen Bilder als um die Unschärfe, die sich in der Wahrnehmung einnistet.
Stiegler fragt also nicht, wie sich Optogramme zeigen, sondern was sie angeblich zeigen. Auf zweihundertfünfzig Seiten präsentiert er seine Forschungen zum Thema, die sich als äußerst ertragreich erweisen.
Zuerst liefert "Belichtete Augen" ein Stück Wissenschaftsgeschichte, das an Kuriosität kaum zu überbieten ist. So erwies sich der Namensgeber und vermeintliche Entdecker der Optographie, Wilhelm Kühne, als sehr erfinderisch, wenn es darum ging, die Akzeptanz seiner Kollegen zu erhalten. Im Zentrum seiner Bemühungen stand Hermann von Helmholtz, die Autorität der Physiologie im 19. Jahrhundert.
Manchmal sagt ein Experiment mehr als tausend Worte. Ein wunderbar skurriles wie sprechendes Experiment macht in aller Deutlichkeit klar, was bei der Frage der Optogramme auf dem Spiel steht.
Kühne hatte die Idee, den großen Helmholtz durch Optogramme auf der Netzhaut von Albinohasen von der Seriosität seiner Entdeckung zu überzeugen. Dabei mussten die Versuchskaninchen in den letzten Momenten vor ihrem Tod ein Porträt des großen Physiologen anschauen, das sich auf ihrer Retina einbrennen sollte. Die Ergebnisse – Netzhautabbildungen des Konterfeis von Helmhotz – wären Beweis genug für die Existenz von Optogrammen, so Kühnes Gedankengang.
Ich fixierte ein lebendes Kaninchen im Halter, dass der Kopf unbeweglich war. Die Lider waren durch einen federnde Halter geöffnet, in welchem zugleich ein schwarzer Pappstreifen mit einem vier Millimeter weiten Rundloche vor der Pupille befestigt war. So vorbereitet wurde der Kopf etwa zehn Minuten mit einem schwarzen Tuche bedeckt, als dieses wieder entfernt wurde, nach weiteren zwei Minuten vom Rumpfe getrennt, während ich das Auge mit der Hand zudrückte.
"Hat nicht funktioniert. Man hat nur einen Kragen und ein Stück der Nase gesehen, aber man konnte ihn nicht erkennen. Deswegen haben zwar viele Albinohasen ihr Leben gelassen, aber am Ende konnte Hermann von Helmholtz von der Theorie der Optographie nicht überzeugt werden."
Von solchen und ähnlichen wissenschaftsgeschichtlichen Kuriositäten erzählt Bernd Stiegler pointiert und mit trockenem Humor. Dabei behält er sein Erkenntnisziel weiterhin scharf im Blick, wenn er untersucht, wovon die Auseinandersetzungen um Wunschhorizont und Wirklichkeitsgehalt der Optogramme eigentlich zeugt. Im Falle Kühne versus Helmholtz ist es ein Streit um grundsätzliche erkenntnistheoretische Fragen.
Die Optographie ist das Sinnbild einer überkommenen Ordnung der Dinge.
... schreibt Stiegler und geht damit an die Wurzel des heutigen wissenschaftlichen Verständnisses der Wahrnehmung. Demnach nehmen wir nicht fotografisch exakt unsere Umwelt wahr, wie es die Idee der Optogramme nahe legt, sondern der von Helmholtz so benannte "neuronale Mensch" erzeugt die Bilder der Welt, angeregt durch Nervenimpulse, in seinem eigenen Kopf. Die Außenwelt spiegelt sich nicht im Gehirn, sondern wird von ihm konstruiert. Damit waren die Optogramme als wissenschaftlicher Erklärungshorizont erledigt, jedoch nicht die Optographie:
"Das war letztlich der Gedanke, dass das Auge gebaut ist wie eine Kamera, und dementsprechend, weil es nach den Gesetzen der Projektion auch rekonstruierbare Repräsentationen dort gibt, kann man das Auge genau so beschreiben. Auf der anderen Seite gab es keine Ergebnisse. Und so fand ein eigentümlicher Transfer statt. Es ist ja keineswegs so, dass die Optogramme als Phantasma gänzlich verschwunden sind, sondern sie sind in andere Bereiche hinübergewandert."
Damit stößt der Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler in den Kern seines eigenen wissenschaftlichen Kompetenzbereiches vor. In der Literaturgeschichte findet er eine erkleckliche Anzahl von Beispielen für die Verwendung von Optogrammen, die er in drei Gruppen einteilt: Gedankenexperimente, die auf Augenhöhe mit der Wissenschaft fortschreiben, was diese links liegen ließ. Weiterhin dient das Optogramm nach Stiegler als Projektionsraum, als Spielwiese für Phantasmen. Und schließlich finden die letzten Bilder auf der Netzhaut metaphorische Verwendung in der Literatur, wenn vom Medium der Photographie erzählt wird.
Dass ein Foto einer Leiche so stark zu vergrößern ist, bis man ein Optogramm auf der Netzhaut erkennen kann, gehört eindeutig in den Bereich der Fiktion. Stiegler fand diese Idee bei Jules Verne:
In Jules Vernes "Les Frères Kip" spielt das Optogramm eine weniger zentrale Rolle, auch wenn es zu einer Überführung des Täters führt. Die recht schematische Geschichte Vernes schildert, wie die Gebrüder Kip zu Unrecht des Mordes an Harry Gibson, dem Kapitän des Schiffes "James Cook", bezichtigt, am Ende aber durch ein Optogramm entlastet werden. Der treue Bootsmann Hawkins hatte glücklicherweise von dem Ermordeten zwei Fotographien angefertigt, auf deren Vergrößerung sich dann die wirklich Schuldigen, nämlich zwei Meuterer abzeichnen.
Bernd Stiegler ist mit "Belichtete Augen" wiederum ein besonderes Buch gelungen. Die Mischung aus Faktizität, Wissenschaftsgeschichte und Erkenntnistheorie macht es für einen breiten Leserkreis interessant. Stiegler holt mit "Belichtete Augen" sein eigenes Fach aus dem Elfenbeinturm hermetischer Textanalysen und demonstriert, was Literaturwissenschaft zu leisten vermag: ein randständiges Thema aus der Vergessenheit zu bergen und es in ein Netz kultureller Bezüglichkeiten einzubetten, in das der Leser an jeder Stelle eintauchen kann. So verstanden wird Literaturwissenschaft zu einer gesellschaftlichen Decodierungstechnik, die sichtbar macht, wie stark mediale Einflüsse auf die kulturelle Metaphernbildung wirken: So wie Wilhelm Kühne im Rahmen seiner Optographie das Auge als Kamera aufgefasst hat, versuchten die Kybernetiker der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts das Gehirn als Computer zu verstehen, während wir uns heute im Zeitalter des Internets als Netzwerker begreifen. Stiegler versteht es in seinem heiteren Stil, dem Leser zugleich Wirkmächtigkeit und Relativität solcher Metaphern nahe zu bringen, sodass man dem Titel seines Buches "Belichtete Augen" durchaus einen vom Autor sicher nicht intendierten Doppelsinn andichten kann. Einerseits: Das Auge belichten im Sinne einer Fotoplatte. Andererseits: Licht ins Dunkel kulturgeschichtlicher Zusammenhänge zu bringen.
Bernd Stiegler: Belichtete Augen.
Optogramme oder das Versprechend der Retina
S. Fischer Wissenschaft, 256 Seiten, 19,95 Euro