Wer kennt ihn nicht, den Hang Unangenehmes gern mal aufzuschieben? Gerade im akademischen Umfeld kann sich eine solche "Aufschieberitis"- von Fachleuten Prokrastination genannt - aber zum Problem entwickeln, vor Klausuren und Prüfungen oder Abschlussarbeiten. An mehreren Universitäten gibt es inzwischen Beratungs- und Workshopangebote.
Smart, belesen und mit Begeisterung für sein Fachgebiet - eigentlich entspricht Stephan auf den ersten Blick dem Bild eines Vorzeige-Nachwuchsakademikers. Doch der 30-jährige Doktorand im Bereich Kommunikation und Medien bezeichnet sich selbst als notorischen Aufschieber, was sich jetzt so kurz vor seiner Promotion zum Problem entwickelt hat. Gerade der hohe Grad an Selbstorganisation beim Verfassen der Doktorarbeit führe und verführe oft dazu, sagt Stephan, dass man oft nicht das mache, was eigentlich Priorität haben sollte:
"Es ist eins der Grundprobleme, dass man einen relativ hohen Anspruch hat an seine Arbeit, an die Promotion, man möchte ja ein Feld erarbeiten, neu aufdecken. Und wenn man das Gefühl hat, man ist mit dem, was man schreibt, nicht zufrieden, dann mache ich das ganz gern und sage, ok, ich mache jetzt etwas Anderes. ( ) Irgendwie habe ich das Gefühl, da funktioniert auch das Langzeitgedächtnis nicht richtig, weil man immer wieder selbst in diese Falle tappt."
Bei der "Aufschieberitis" gibt es eine enorme Bandbreite
Vom einfachen Vertagen unangenehmer Aufgaben bis hin zum fast unüberwindbaren Hindernis Prüfung oder Studienabschluss - bei der "Aufschieberitis" oder auch Prokrastination gibt es eine enorme Bandbreite. Diese Erfahrungen hat Psychologin Lena Reinken in ihren Beratungsstunden und Workshops in Münster und an der FU Berlin gemacht.
"Ich würde sagen, es ist bunt gemischt. Wir haben schon einige, die in höheren Semestern sind und zum Beispiel ihre Masterarbeit aufgeschoben haben, wir haben auch Magister- oder Diplomstudiengänge, die also schon länger studieren und einzelne Prüfungen aufgeschoben haben. Wir haben Leute im ersten Semester, die ihr Studienfach gewechselt haben und schon etwas Uni-Erfahrung haben, wir haben aber auch Zweitsemester, die sagen, mir scheint das jetzt schon ein Problem zu sein. Ich würde sagen, kennzeichnen tut alle, dass sie sagen, Aufschieben ist irgendwie mein Thema - scheinbar schaffe ich es nicht so an meinen Projekten zu arbeiten, wie ich mir das wünschen würde."
Ein Grundproblem also, das allerdings in verschiedensten Abstufungen auftritt - in der Prokrastinationspraxis der FU Berlin bietet man daher zwei Typen von Workshops für Studierende an, die ihr "Aufschiebe-Problem" nicht mehr selbst in den Griff bekommen. Dabei geht es einerseits um einen tiefenpsychologischen Ansatz, denn oftmals ist das Aufschieben mit einem anderen psychischen Problem verbunden. Den anderen verhaltensorientierten Workshop mit fünf Treffen à zwei Stunden leitet Lena Reinken - ihre Methode: die sogenannte Lernzeitverkürzung. Ziel dabei ist es, Arbeits-und Freizeit wieder genauer voneinander zu trennen. So, sagt Reinken, könne besser geplant und die vorhandene Zeit effizienter genutzt werden:
"Das ist ein großer Effekt, dass die Leute am Ende des Trainings sagen, ich habe wieder ein Gefühl von Arbeit und Freizeit. Und das, was ich vorher hatte, ein immerwährendes schlechtes Gewissen, auch wenn die Leute im Kino saßen oder ein Buch lasen, ( ) das ist mein Eindruck, das verändert sich im Laufe des Trainings. Wenn die Teilnehmer es schaffen - und meine Erfahrung ist, dass es viele schaffen, wieder Zeiten zu etablieren, in denen gearbeitet wird und dann gibt es freie Zeit."
Lernen, mit der Neigung umzugehen
Auch Doktorand Stephan weiß, wie schwer es ist, reine Studien- oder Arbeitszeit von der Freizeit genau zu trennen. Gerade am Schreibtisch zuhause falle das extrem schwer, weil er durch soziale Medien, Anrufe oder Spontanbesuche von Freunden zu schnell abgelenkt werde.
"Ich versuche Routinen zu entwickeln, dass ich sage, ich bin um zehn Uhr in der Bibliothek und bleibe dort bis 18 Uhr, manchmal lasse ich auch mein Smartphone unten, oder dass man sich vornimmt mindestens drei Sätze zu schreiben. Die kann man zwar auch wieder löschen, aber man hat diese stetige Auseinandersetzung, die man braucht, um das Thema irgendwann zum Abschluss zu bringen."
Stephans selbst gewählte Methode zeigt erste Erfolge, der 30-Jährige kommt langsam mit seiner Arbeit voran. Und das sei das Entscheidende, sagt Psychologin Reinken, dass man lerne mit seiner Neigung zum Aufschieben umzugehen und sie vielleicht sogar als Teil der Persönlichkeit akzeptiert.