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Prometheus und die Tücken der Technik

Technik als Gegenstand der Philosophie? Bernard Stiegler wagt das Experiment und denkt - denkt nach und denkt vorraus. Nun ist mit "Technik und Zeit" der erste Teil einer Trilogie erschienen, die sich der Technik- und Menschheitsgeschichte auf ungewöhnliche Weise nähert.

Von Leander Scholz |
    Jeder kennt ihn. Von allen Helden ist er der größte und tragischste. Sein Schicksal hat Schriftsteller und Künstler über Jahrhunderte hinweg fasziniert. Auch wenn man sich nicht für griechische Mythologie interessiert, hat man seinen Namen schon einmal gehört. Die Rede ist von Prometheus, dem berühmten Titan, der den Menschen das Feuer brachte und von Zeus für diese Tat auf grausame Weise bestraft wurde: gefesselt an einen Felsen im Kaukasus, soll jeden Tag ein Adler seine Leber fressen, die über Nacht wieder nachwächst. Wie zum Hohn lautet sein Name ins Deutsche übersetzt: der Vorausdenkende.

    Seinen Bruder mit dem Namen Epimetheus kennen dagegen nur Wenige. Dessen Name lautet auf Deutsch: der Nachdenkende. Allein die Namen der beiden Brüder dürften also schon deutlich machen, dass sich das Schicksal von Prometheus nur verstehen lässt, wenn man auch das von Epimetheus kennt. Der eine denkt voraus, und der andere denkt nach. Und doch ist die Literatur, die sich mit Epimetheus beschäftigt, im Gegenteil zu der über seinen äußerst prominenten Bruder durchaus überschaubar.

    Der französische Philosoph Bernard Stiegler hat dieses auffällige Missverhältnis nun zum Anlass für eine umfangreiche Revision der mit der Urszene aller Erfindungen verbundenen Legende unternommen. Denn lange Zeit stand Prometheus für die technische Emanzipation des Menschen und die zunehmenden Folgeprobleme, die sich bis in die Gegenwart daraus ergeben haben. Mit der Bemächtigung des Feuers ist der Anfang einer langen Kette von Erfindungen gemacht, die mehr Probleme erzeugt als gelöst haben. Die Legende von Prometheus wird daher zumeist als eine Warnung verstanden, dass die Technik immer zugleich Erlösung und Fluch ist. Obwohl der Mensch sich selbst als Erfinder der Technik versteht, erfährt er sich nicht als deren Meister. Wie vormals der Macht der Natur, der er sich entziehen wollte, ist er nun der Macht der Technik ausgeliefert.

    In diesem Sinne lautet der Titel von Bernard Stieglers Buch "Technik und Zeit". Denn er verweist auf einen anderen, weitaus berühmteren Philosophen, der sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt hat, was die Technisierung unserer Welt bedeuten mag. Gemeint ist Martin Heidegger, dessen Hauptwerk "Sein und Zeit" aus dem Jahr 1927 schon von der beunruhigenden Einsicht heimgesucht wurde, dass die Zukunft der Menschen eng mit der Zukunft der Technik verbunden ist. Je mehr sich der Mensch technisch aufrüstet, desto größer werden auch die damit einhergehenden Gefahren. Spätestens die technische Nutzbarmachung der Atomenergie, zu militärischen oder zu friedlichen Zwecken, wurde daher für eine ganze Generation von Theoretikern zu einem untrüglichen Zeichen, dass es der prometheische Mensch zu weit getrieben hat.

    Um aus der Sackgasse hinauszugelangen, in der sich die Techniktheorie lange bewegt hat, setzt Stiegler nicht bei Prometheus, sondern bei dessen unbekanntem Bruder an. Während die gängige Alternative darin gesehen wird, entweder unverdrossen an den verbesserten Segen der Technik glauben zu müssen, oder derselben als Teufelszeug ratlos gegenüber zu stehen, soll damit eine evolutionäre Perspektive auf die Technik möglich werden. Der Untertitel von Stieglers Buch lautet "Der Fehler des Epimetheus". Denn noch bevor Prometheus als tragischer Held die urzeitliche Bühne betritt und die Menschen in den Teufelskreis der Technik einschließt, macht Epimetheus einen entscheidenden Fehler, der seinem Bruder allererst die Gelegenheit gibt, sich durch seine bedenkenlose Tatkraft zu beweisen. Beide Brüder hatten zunächst den Auftrag, die von den Göttern gemachten Menschen und Tiere gerecht mit Gaben auszustatten, zumindest nach der Überlieferung bei Platon. Da Epimetheus jedoch schon alle Gaben verteilt hatte, als die Menschen an der Reihe waren, kam Prometheus auf die Idee, das technische Wissen, symbolisiert im Feuer, von den Göttern zu stehlen und es den Menschen zu schenken.

    Am Anfang steht also weder ein Sündenfall, noch eine Auszeichnung des Menschen vor allen anderen Lebewesen, sondern ein banaler Fehler. Weil das Denken im Wechselspiel von Nachdenken und Vorausdenken erst einsetzt, nachdem der Fehler schon gemacht worden ist, verdankt der Mensch seine wichtigste Gabe letztlich wohl einem ziemlich dummen Zufall.

    Unter Rückgriff auf Forschungen aus dem Bereich der Vor- und Frühgeschichte sieht Stiegler diesen dummen Zufall in der Evolution des aufrechten Gangs gegeben. Denn dieser ermöglichte eine Neuorganisation des menschlichen Gehirns und brachte die kognitiven Leistungen hervor, auf die wir so stolz sind. Lange Zeit galt der Kopf als das vornehmste Körperteil des Menschen. Vom Kopf scheinen schließlich die Befehle auszugehen, denen alle anderen Körperteile zu gehorchen haben. Kein Herrscher hat sich bislang als Hand oder Fuß begriffen. Sondern immer war es der Kopf, auf den es letztlich ankam. Wenn die Organisation des Gehirns jedoch auf die des Körpers und dessen Beziehungen zu seiner unmittelbaren Umwelt basiert, können die technischen Erfindungen nicht allein als kognitive Leistungen verstanden werden. Der Ursprung der Technik reicht weiter zurück als der Ursprung des Menschen.

    In diesem Sinne versteht Stiegler den Fehler des Epimetheus auf doppelte Weise: Die wichtigste Gabe des Menschen, die in der europäischen Tradition stets in seinen kognitiven Leistungen gesehen wurde, ist das Resultat einer Umstellung seiner körperlichen Organisation. Aus dieser Sicht erscheint das Denken als ein Nachdenken, weil es immer zu spät kommt. Denn das Denken ist nicht die Quelle, sondern das Resultat der Technik. Mit dieser Einsicht, die Stiegler anhand einer Interpretation der etwas lächerlich wirkenden, aber zu Unrecht vergessenen Figur des Epimetheus entwickelt, hat sich zugleich jeder Humanismus in der Techniktheorie erledigt. Der Mensch ist weder der Erfinder der Technik, noch ihr Meister.

    Das hört sich nicht gerade nach einer frohen Botschaft an. Und doch ermöglicht diese Einsicht für Stiegler einen neuen Blick auf das prometheische Streben des Menschen und der Fähigkeit vorauszudenken. Denn mit dem Schicksal des Prometheus ist nicht nur das Wissens ums Feuermachen verbunden, das die Menschen in seltsam hybride Wesen zwischen Göttern und Tieren verwandelte, sondern auch die berüchtigte Büchse der Pandora, die Zeus den Menschen als Rache für den Raub des Feuers überbringen ließ. In dieser merkwürdigen Büchse befindet sich neben allerlei Plagen bekanntlich auch die Hoffnung auf eine andere Zukunft. Nun könnte man diese Hoffnung zwar als die schlimmste aller Plagen verstehen, aber für Stiegler zeichnet sich mit dem zweifachen Ursprung des Denkens als Nachdenken und Vorausdenken der Übergang von einer blinden zu einer wissenden Evolution ab.

    Im Rahmen dieser zweiten Evolution kann die Technik nicht länger als Mittel zum Zweck verstanden werden, sondern stellt vielmehr das gleichsam natürliche Milieu des Evolutionsprozesses dar. Auch wenn sich der Leser am Ende des Buchs mit dieser Erkenntnis allein gelassen fühlt, weil er nicht weiß, was das für seine knapp bemessene Lebenszeit bedeuten könnte, so darf man doch auf die Ankündigung von Stiegler gespannt sein, in einem weiteren Buch über die längerfristige Tendenz zu sprechen, die der technischen Evolution innewohnt.

    Bernhard Stiegler: "Technik und Zeit. Der Fehler des Epimetheus". Übersetzt von Gabriele Rickeu und Ronald Voullié, diaphanes, Zürich/Berlin 2009, 358 Seiten, 29,90 Euro.