Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine findet sich „Putin“ zwar durchgehend auf den vorderen Rängen der Twitter-Trends. Doch deutsche Nachrichtenmedien haben längst Wolodimir Selenskyj als den interessanteren der beiden Staatsmänner identifiziert. Selenskyj, der schnell in die Rolle von „Putins Staatsfeind Nummer eins“ ("Redaktionsnetzwerk Deutschland") gewachsen ist, der „zur moralischen Instanz werden könnte“ ("Süddeutsche Zeitung") und der „in der Stunde größter Not staatsmännisches Format zeigt“ ("Neue Zürcher Zeitung").
Millionen folgen Selenskyj
Wie ihm das gelungen ist? Selenskyj setzte von Beginn an auf Soziale Netzwerke. Auf Twitter und Facebook verbreitet der 44-Jährige seine Botschaften. Kurznachrichten, auch auf Englisch und Russisch, in denen er über die aktuelle Lage und politische Gespräche informiert. Vor allem aber Videos, bei denen der gelernte Schauspieler mit seinem Charisma punkten kann. Handyfilme, die ihn vor bekannten Orten in der ukrainischen Hauptstadt Kiew zeigen. Und mit denen er signalisiert, dass er und sein Land sich dem Angreifer so schnell nicht ergeben werden.
Fast vier Millionen Menschen folgen Selenskyj auf Twitter, seine Videos werden auf Facebook und Youtube ebenfalls millionenfach geschaut und geliked, klassische Medien weltweit zeigen sie – und interpretieren sie. Bislang also ein Erfolg für ihn in dieser Auseinandersetzung. Ein Propagandakrieg, der auch über andere staatliche Kanäle geführt wird, wo der offizielle Ukraine-Account etwa Putin als Kind Hitlers karikiert.
Christian Stöcker: Selenskyj erzeugt Druck über Social Media
Für Christian Stöcker erlebt die Welt gerade den „ersten Krieg in der Geschichte, der zwar mit einem kleinen, dafür aber wichtigen Anteil auch auf Social Media geführt wird“, wie er auf Twitter schrieb.
Zumindest in Europa sei diese Art von Krieg neu, fügte der Journalist und Professor für Digitale Kommunikation im Gespräch mit dem Deutschlandfunk hinzu. Selenskyj gelinge es, seine eigene Bevölkerung zu mobilisieren und gleichzeitig westliche Regierungen unter Druck zu setzen. „Ein Teil der rapiden politischen Veränderungen, die wir in den letzten Tagen erlebt haben, hat ursächlich mit dem zu tun, was Selenskyj gemacht hat.“ Beispielsweise habe die Forderung nach einem SWIFT-Aus Russlands ihren Ursprung in der Ukraine gehabt, so der „Spiegel“-Kolumnist.
Aktuell zeige sich, wie Social Media weltweite direkte Kommunikation ermögliche. Auf Unternehmen und Prominente könne Druck ausgeübt werden, „und dann ist es sehr schwierig, sich dem zu entziehen“, stellt Stöcker fest. Das zeige sich, wenn Tesla-Chef Elon Musk als Reaktion auf einen Tweet seinen Satelliten-Internetdienst Starlink für die Ukraine aktiviere. Oder auch, wenn sich die russische Sängerin Anna Netrebko zwar kritisch zum Krieg äußere - und dabei den Social-Media-Druck auf ihre Person in dieser Frage thematisiere.
Selenskyj habe eine neue „kommunikative Realität“ geschaffen und sei so innerhalb von wenigen Tagen zu einem „globalen Helden aufgestiegen“, so Stöcker. Der Politiker beherrsche „die große Klaviatur des Einsatzes von Sozialen Medien auf der globalen Ebene“. Und Techkonzerne wie Meta und Twitter böten die Bühne, auf der dieses internationale Gespräch nun stattfinde.
Und Russlands Trolle schlagen zurück
Eine Bühne, die die russische Regierung in der Vergangenheit regelmäßig zu manipulieren versucht hat, mit einer sogenannten "Troll-Armee". Ein Wort, das in Deutschland vor allem in Folge des Ostukraine-Kriegs seit 2014 bekannt wurde. Das aber ein Phänomen beschreibt, das es schon davor gegeben hatte: Frauen und Männer, die im Auftrag des Kremls versuchen, die öffentliche Meinung im Westen zu beeinflussen mit massenhaften Beiträgen in Zeitungsforen und sozialen Netzwerken. Ein Vorgehen, das in den vergangenen Tagen auch deutsche Redaktionen erneut erleben haben.
Mehr zur Berichterstattung über Russland und den Ukraine-Krieg:
Bereits Ende vergangener Woche hatte die "Frankfurter Rundschau" eine "Cyberattacke" auf sich öffentlich gemacht. Zum einen seien Anzeigen gekapert und Umleitungen auf Propagandaseiten geschaltet worden, sagte "FR"-Chefredakteur Thomas Kaspar nun im Deutschlandfunk. "Es war klar, wir haben es mit einem feindlichen Akt zu tun."
Hinzu gekommen sei, dass nach Russlands Kriegserklärung die Anzahl der Kommentare "noch oben geschnellt" sei. Diese habe eine "sehr klare, sich wiederholende formelhafte Sprache" ausgezeichnet, die sich inhaltlich an den Erklärungen Putins orientiert habe, so Kaspar. Rund 35.000 gezählte Kommentare alleine am Donnerstag hätten dann zu einer Überlastung geführt. "Sie können gar nicht mehr so viele Kommentare löschen, wie dann reinkommen."
Russland sei im Westen und auch in der Ukraine lange mit "Zersetzungspropaganda" erfolgreich gewesen, hält Christian Stöcker fest. Doch diesen kommunikativen Krieg gewinne die Regierung der Ukraine im Moment "mit fliegenden Fahnen". Die Frage sei, wie das beim nächsten Mal laufe. "Denn natürlich wird diese neue, veränderte Situation Einfluss auf die strategischen Planugen der militärischen Abteilungen in allen Ländern dieser Welt haben."
Medienwissenschaftler warnt vor Folgen von Berichterstattung
Zu einer grundsätzlichen Vorsicht bei der Berichterstattung in dieser „Propagandaschlacht“ Ukraine-Krieg mahnt Florian Zollmann. Der Medienwissenschaftler von der Universität Newcastle sagte im Deutschlandfunk, ein Problem sei zurzeit, dass auf Sozialen Netzwerken Fehlinformationen und Propaganda verbreitet würden und so das Bild verzerrt werde. Staatliche Propaganda habe in Kriegszeiten allerdings schon immer eine große Rolle gespielt.
Journalismusforscher: "Russland wird auf Putin reduziert"
Medien seien deshalb auch gefragt, auf andere Quellen zu schauen, fordert Zollmann, der unter anderem zur Berichterstattung über den Syrien-Krieg geforscht hat. Medien sollten bei ihrer Berichterstattung nicht nur auf ein Gut- und Böse-Schema setzten, so der Wissenschaftler. Es müsse auch weiterhin um ein Ausloten dessen gehen, „was diplomatisch möglich ist“.