Eine Fabrikbrache in der Nähe des Hildesheimer Hauptbahnhofs: Hier findet in diesem Jahr das Prosanova Festival statt. Literatur zwischen rostigen Stahlträgern und staubigen Bauruinen. Eine Kulisse, die auf treffende Art den Charakter des Festivals unterstreicht, denn der Akzent soll weniger auf abgeschlossenen Werken, als auf dem Prozess ihrer Entstehung liegen. Ähnliches gilt für die Formate selbst: Performance-Kunst statt Frontallesung.
In einem literarischen Essay und Performance gibt Sascha Macht Einblick in seine Arbeitsweise. Im vergangenen Jahr ist sein Debütroman "Der Krieg im Garten des Königs der Toten" erschienen. Aktuell sucht er nach neuem Stoff für einen nächsten Roman:
"Verehrte Anwesende, der Autor, dessen Name Sascha Macht lautet, besteht mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit aus Fleisch und Blut und Knochen. Er trägt eine Brille und lange Haare. Der Autor, dessen Name Sascha Macht lautet, darf hier und jetzt über das Material sprechen, das er für seine Kunst verwendet."
Sascha Macht erklärt dazu: "In dem Fall war mir wichtig, meine Position als Künstler […] zu benennen und zu sagen, was ich mir vorstelle für die Zukunft, und das auch zurück zu schalten mit meiner eigenen Biografie, warum ich eigentlich so schreibe, wie ich schreibe. Das hat mir Spaß gemacht, war aber doch dann auch ein Kraftakt."
Eine Bühne für die junge deutsche Gegenwartsliteratur
Während es in den letzten Jahren eher darum ging, die Literatur zu feiern, gibt sich das Festival in diesem Jahr nachdenklich. Einen roten Faden im Programm bildet die Frage nach der Zukunft der Literatur: Welche Texte möchten wir lesen? Welche Stimmen möchten wir hören? Das Festival nimmt mit Blick darauf eine klare Haltung ein: Hier sind weibliche Stimmen in der Mehrheit. Viele von ihnen mit einem bi-nationalen Hintergrund.
Olivia Wenzel hat in Hildesheim Kulturwissenschaften studiert. Als Dramatikerin arbeitet sie für verschiedene Theaterhäuser, wie etwa das Deutsche Theater in Berlin und das Thalia Theater in Hamburg. In Hildesheim präsentiert sie zum ersten Mal einen Prosatext: "Keine Angst, mein Herz".
"Seit ich in den USA bin, sehe ich zuallererst die Hautfarbe der Menschen. - Okay. - Es vergeht keine Stunde, in der ich nicht über die Konstruktion von Ethnie und Identität nachdenke. - Cool. - Nein. - Jetzt machst du wieder das Gesicht. Lass das bitte. Das ist dein "weißes Privileg-Gesicht." - Sorry, das war unbewusst. - In Afrika haben sie Kokosnuss zu dir gesagt, oder? Außen braun, innen weiß. Wenn du das Gesicht machst, verstehe ich, wie sie darauf kommen."
Die Performance von Olivia Wenzel ist eine der eindrücklichsten Veranstaltungen des Festivals. Und sie steht stellvertretend für viele andere Arbeiten: in ihrer offenen Bekenntnis zur Autofiktion, ihrer selbstbewussten gesellschaftspolitischen Haltung:
"Ich habe früher sehr viel fiktionaler geschrieben und gearbeitet, und dann fand ich das auch immer müßig, wenn Leute nach der Authentizität gefragt haben und ob das jetzt autobiografisch [...] Bei diesen Sachen, die ich jetzt hier gelesen habe, ist es schon so, dass ich da ganz bewusst von ausgehe, dass das, was ich da im Persönlichen erlebt habe, eine Wichtigkeit und eine Dringlichkeit hat und auch ein politisches Gewicht."
Zentrale Themen: Fragen nach Identität und Herkunft
Die Frage nach Identität und Herkunft, verbunden mit einer Forderung nach Gleichberechtigung, das sind die zentralen Themen des diesjährigen Prosanovas, auch außerhalb der einzelnen Veranstaltungen. Florian Kessler erklärt:
"Das ist immer wie so ein riesiger Ameisenhaufen von Meinungen und Stimmen, und da fällt mir schon auf, dass diesmal wahnsinnig viel über Themen geredet wird und nicht nur über einzelne Autoren und ihre Texte."
Florian Kessler hat jedes der fünf Prosanova Festivals mit erlebt. Er ist ehemaliger Student des Hildesheimer Literaturinstituts. Mittlerweile arbeitet er im Lektorat des Carl Hanser Verlags. Als solcher fällt ihm in diesem Jahr vor allem die Vielzahl neuer Stimmen auf sowie das zunehmende Bewusstsein für Sachbücher als Teil der Gegenwartsliteratur:
"Es gibt viele Festivals, die auch sehr schön sind, die aber einen viel kanonisierteren Literaturbegriff vertreten, [...]und hier ist es ein bisschen wilder und rauer, und das ist aber ein ziemlicher Beweis dafür, dass die Gegenwartsliteratur sehr lebendig ist."
Literatur in der Blase oder gesellschaftlicher Impulsgeber?
Doch was bleibt von diesen Bekenntnissen nach vier Festivaltagen übrig? Welchen Einfluss kann das Prosanova auf den etablierten Literaturbetrieb haben? Und welche Impulse können davon für die Gesellschaft ausgehen? Die Sachbuchautorin Mithu Sanyal ist skeptisch:
"Das sind alles Stimmen, die ich hier vertreten fühle, und die ich in der deutschen Literatur auch finde, aber ob das angekommen ist, dass das ein großer, wichtiger Teil der Literatur ist, das weiß ich nicht. Das ist immer noch dieses: Das ist eine Einzelstimme. Nein, es sind ganz viele. Das sind gar nicht mehr Einzelstimmen."
Auf dem Prosanova bleibt die junge Literaturszene weitgehend unter sich. Selbst in Hildesheim wissen nur wenige um das Festival. Gegenwartsliteratur in der Blase oder Impulsgeber mit Einfluss? Das nächste Prosanova-Team hat jetzt wieder drei Jahre Zeit, sich etwas einfallen zu lassen. Einen Mangel an Inspiration sollte es nach dem gerade zu Ende gegangenen Festival nicht geben.