Drei Flüsse sind es, die quer durch das ganze Ruhrgebiet dem Rhein zustreben. Nach der Ruhr ist die Region im Volksmund benannt, aber auch die Lippe und die Emscher prägen das Landschaftsbild. Unweit der Quelle der Emscher, so berichtet die Sage, hätten Schweinehirten schwarze Steine gefunden, die im Feuer zu brennen begannen und morgens noch glühten.
In dieser Gegend reichte das Kohleflöz bis zur Oberfläche, und bald nannte man diesen Landstrich bis hin zum Rhein "Kohlenpott". So wurde er dann auch im Song "Dat Kohlenpottlied" der Gruppe Prickel Pit besungen. Der Kohlenpott war nicht nur ein Schmelztiegel für Kohle und Eisenerze, sondern auch für Menschen, die aus ganz Europa ins Ruhrgebiet strömten. Das, was diese Menschen über zwei Jahrhunderte unterhalb des Ruhrpotts schufen, das wollen wir nun erkunden, bevor der letzte "Pütt", wie man hier sagt, dicht gemacht ist.
Wer sich auf die Reise in die Unterwelt des Ruhrgebietes begeben möchte, der darf sich vollständig seiner Kleider entledigen, um die der Bergleute anzuziehen. Das sind die komplette Unterwäsche, Hemd, Hose und Jacke, Helm mit Grubenleuchte, Schuhe und Schienbeinschoner, und natürlich der Selbstretter-Atemschutz für den Notfall.
"Wir fahren jetzt an, der Korb ist da. Wir müssen jetzt die Schutzbrillen aufsetzten und die Lampen einschalten. Dann gehen wir einzeln durch die Drehtüren, bitte vorsichtig beim Aufsteigen."
Seilfahrt nach unten
Der Weg nach unten, das war für abertausende Bergleute der tägliche Weg zur Arbeitsstätte, und wenn sie am Ende der Schicht "glücklich nach oben kamen", konnten sie mit Recht "Glückauf" sagen. Die Fahrt zu den Flözen untertage nennen sie Seilfahrt. Seilfahrten finden nach einem Fahrplan pünktlich zu festgelegten Uhrzeiten statt. Wir finden uns, fast wie auf einem Bahnhof am Förderkorb des Schachtes 10 der Zeche Prosper Haniel ein.
Der aus drei Ebenen oder Etagen bestehende Förderkorb beginnt seine Fahrt nach unten mit einem kleinen Ruck, dann hört man das Ansteigen der Fallgeschwindigkeit. Fallen, wir fallen nun gute vier Eifeltürme nach unten. Der Ein- und Ausstiegsbereich des Schachts erinnert ein wenig an eine U-Bahn Atmosphäre. Überall laufen Rohre und Leitungen der Wand entlang. Warnschilder erinnern allenthalben zur stetigen Vorsicht. Vom Schacht führen Stollen oder Strecken in unterschiedliche Richtungen zu den Abbauflözen, die in der Regel kilometerweit entfernt sind. Eine Zugfahrt ist also angesagt.
"Wir gehen jetzt zur Dieselkatze. Jetzt ist noch alles schön gepflastert, das hat noch was von U-Bahn. An der Dieselkatze werden wir noch eine Unterweisung machen, und dann wird das auch schon mal ein bisschen anders."
Schnellzug im Schacht
Für uns ist das also die sogenannte Dieselkatze. Hier untertage, so lernen wir von Andreas Koschare, gibt es vier unterschiedliche Fahrzeuge, um zu den weit entfernten Abbaubereichen zu gelangen.
"Vom Schacht aus gibt es Züge, die alten bewährten kleinen, die man vielleicht mal kennt. Es gibt aber auch inzwischen einen Schnellzug wegen der weiten Entfernung zum Schacht, den kann man sich als kleinen Untertage ICE vorstellen. Den gab es sogar mit selbstöffnenden Türen. Dann wird heute normalerweise eine Fahrt mit der Dieselkatze an der Einschienen-Hängebahn bewältigt.
Es wurden auch schon Sessellifte eingesetzt, und ein häufiges Beförderungsmittel untertage ist die Bandfahrung auf dem Fördergurt. Die Bandfahrung ist praktisch auf den gleichen Bändern, wo auch die Kohle befördert wird. Es gibt besondere Auf- und Abstiegsstellen und man springt und legt sich auf das Band flach bis zu den Stellen drauf, wo man wieder sicher auf- und absteigen kann."
Zunehmende Dunkelheit
Andreas ist Bergvermesser und heute im Nachbergbau tätig. Wir nehmen also in der Dieselkatze Platz, eine Art Hängebahn, deren Schienen an der Decke befestigt sind. Das Geräusch während der Fahrt erinnert ansonsten an eine ganz normale Eisenbahnfahrt. Unser Dieselkatzen Zug verlässt den Bereich des Förderkorbs und nimmt uns mit in einen immer dunkler werden Stollen. Neben uns läuft ein Förderband, Rohre und Elektroleitungen schwingen sich von Aufhänger zu Aufhänger.
Aus der Dunkelheit taucht immer wieder ein Licht auf und wir lauschen dem Klack di Klack der Dieselkatze. Dieses Klack di Klack erinnert mich an eine Fahrt mit dem Aurora Express in Alaska von Anchorage nach Fairbanks. Das hörte sich genau so an. Aber, der Blick aus dem Fenster konnte nicht unterschiedlicher sein, in Alaska die grandiose Natur des Mount Denali, hier die fast lichtlose Dunkelheit des Stollens.
Zum akustischen Vergleich, dieses Klacka di Klack ist der Aurora Express in Alaska. Im Gegensatz zur Alaska Railroad sind wir hier untertage nur mit etwa 6 Stundenkilometern unterwegs. Schauen wir in die Geschichtsbücher, dann haben beide Landstriche eine seltsame Gemeinsamkeit. Hier unten das "schwarze Gold" dort, in Alaska das "gelbe Gold". Hier und dort spielte sich über ein- bis zwei Jahrhunderte ein unglaublicher Malstrom menschlicher Schicksale ab.
Die einfachen Menschen hofften auf eine sichere Einkunft für Ihre Familien, für die sie bereit waren, alles zu geben zu dem sie fähig waren. Die anderen waren die Investoren und Politiker, die ihren Reichtum und Einfluß mit diesen Bodenschätzen mit allen Mitteln vervielfachen wollen. Hier und dort strömten Menschen aus vielen Ländern zu diesen Bodenschätzen. Ihr Leben und ihre Arbeit prägten die Kultur und die Sozialgeschichte ganzer Kontinente.
Wenn man mit der Dieselkatze hier unten eine halbe Stunde in der Dunkelheit fährt, dann hat man Zeit, über solche Dinge zu reflektieren. Wir passieren einen seitlich abgehenden Stollen aus dem ein deutlicher Luftzug weht. Dieser Luftzug, so lernen wir, nennen die Bergleute "Wetter" und die sind überlebenswichtig hier unten. Nach etwa 3 km schuckelnder Fahrt kommt die Dieselkatze zum Stillstand.
Wir steigen am Flöz Zollverein aus, und von hier geht es zu Fuß einen halben Kilometer zur Bauhöhe 124, wo die letzten Kohlen der Deutschen Steinkohle abgebaut werden. Der Boden ist feucht und mehr als uneben, man muss wirklich auf seine Schritte achten.
Mächtiger Maschinenpark
Ich freue mich mittlerweile über meine Stirnlampe auf dem Helm, mit der ich den Bereich vor mir ausleuchten und sondieren kann. Hier klettert man über dicke Kabel oder Maschinenteile und dort hangelt man sich an mächtigen Rohren entlang, bis wir am Abbauflöz ankommen, das rechts von dieser Strecke abzweigt.
Mächtige Hydraulik Schilde stützen die Gebirgsdecke, die die Bergleute "Firste" nennen, vor einer mannshohen Schremmwalze, die das zweieinhalb Meter mächtige Kohleflöz vor uns regelrecht abschreddert. Als Nichtbergmann fragt man sich unwillkürlich, wie haben die diese mächtigen Maschinen hier runter geschafft und wer war das möglicherweise.
"Ich hab das gebaut mit meinen Kumpeln. Mein Name ist Ramazan Kadam. Das war für mich sehr interessant. Wir waren mit fünf, sechs Mann. Ich habe das alles geordnet, dass wir das alles so und so machen. Ich habe die eingebaut."
Ramazan arbeitete seit 1985 im Ruhrbergbau und er erinnert sich noch lebhaft an seine erste Anfahrt untertage.
Angst beim ersten Mal
"1986 war das. Ich habe Angst gehabt. Das war das erste Mal, dass ich untertage angefahren bin. Es war spannend, wie gesagt, es war nicht so eng, aber trotzdem, es war dunkel. Die Erfahrung zum ersten Mal runter zu fahren, das war richtig peinlich für mich gewesen."
Die Schremmwalze arbeitet sich tosend und wassersprühend an mir vorbei. Einer der Kohlebrocken fällt direkt vor meine Füße, ich hebe ihn auf und sehe den messerscharfen Abdruck einer Urweltpflanze. Unglaublich, was ich in den Händen halte, lebte vor 300 Millionen Jahren, hier im Ruhrpott.
Andreas Koschare, der hier unten unzählige Kilometer unterwegs war, kennt natürlich die Pflanzen und Lebewesen, die vor Urzeiten hier lebten.
"Das, was Du da gefunden hast, ist ein alter Abdruck einer sogenannten Sigillaria, eines Siegelbaumes, eines dieser urzeitlichen Farngewächse. Die Wälder sahen damals nicht ganz so aus wie heute, was man heute als solche Farne kennt. Die waren damals zehn bis zwanzig Mal so groß. Man findet dort unten auch viele Spuren dieser Vegetation. Man sieht beispielsweise sogenannte Drifthölzer in den Flözen. Das sind die Hinterlassenschaften kleiner Bachläufe, die Hölzer oben auf dem Flöz eingespielt haben, oder Muscheln, denn die Kohlenflöze waren mal von Meerwasser überdeckt."
Bei seinen Arbeiten untertage hat Andreas aber auch noch andere Relikte gefunden.
"Vor kurzer Zeit waren wir hinter einem sogenannten Dammbauwerk, das kurz nach meiner Geburt verschlossen worden ist, das war weit vor 50 Jahren. Wenn man dahinter dann noch Zeitungen und Stühle findet, die die Leute dort stehen gelassen haben, das gibt doch einen hervorragenden Eindruck, was da mal gewesen ist, und wie die Leute sich dort bewegt und gearbeitet haben."
Das Ruhrgebiet unter Tage: ein Schweizer Käse
Wir befinden uns wie gesagt, im Flöz Zollverein. Der Weg untertage, vom Schacht 10 bis hier her, waren gut an die vier Kilometer. Das Ruhrgebiet, so sagt man, sei hier untertage wie ein Schweizer Käse. Das ist offensichtlich eine glatte Untertreibung, denn das ist schlichtweg nichts gegen die Anzahl der Stollen und Schächte, die sich unterhalb des gesamten Ruhrgebiets befinden, erzählt Andreas Koschare.
"Wenn man mal den ganzen Ruhrbergbau über der letzten über 200 Jahre sieht, und alles zusammenzählt, dann kann man mit Fug und Recht sagen: An der Ruhr sind mehrere 10.000 km Strecken aufgefahren worden, also wir kommen locker, wenn wir sie hintereinander setzen, einmal rund um die Welt ohne ans Tageslicht zu müssen. Gleichzeitig sind noch ungefähr 12.500 Tagesöffnungen heute bekannt, die der Bergmann mal gemacht hat, um untertage zu kommen. Um mal eine Größenordnung zu kriegen, unser tiefster Schacht im Ruhrgebiet ist 1.640 Meter tief."
Unser Weg zurück zum Schacht ist der der Bergleute, wenn ihre Schicht zuende ist. Die Dieselkatze bringt uns wieder zum Schacht und "Dat Kohlenpottlied" kommt wieder in den Sinn. "Dann bisse auch einen von hier". Das, was Bergbau im Kohlenpott bedeutet hat, was er bewegt und bewirkt hat, darüber lassen sich ganze Bücher füllen. Er hat auch die Landschaft oberhalb verändert, das zeigen uns die vielen Abraumhalden, die hier gerne auch die Berge des Ruhrpotts genannt werden.
8, 5 Milliarden Tonnen haben die Bergleute über zwei Jahrhundert noch oben gebracht, 440 Milliarden Tonnen bleiben wohl für immer hier unten. Noch sind wir unten, 1.236 Meter unter diesen Abraumbergen und wir sammeln uns wieder am Schacht 10, regelrecht in einem Warteraum wie auf einem Bahnhof, für die Seilfahrt zu Tage.
Die Sicherheitstore schließen, der Förderkorb beginnt seine Auffahrt. Es geht "Glücklich auf" oder "Glückauf". Wie sehr dieses Lied die Menschen im Ruhrgebiet bewegt und berührt, kann man auch heute immer noch erleben, wenn 40.000 Fans das "Glückauf" in der Schalke Arena traditionell erklingen lassen.
Glückauf, unsere Reise nach oben zum Tageslicht führt uns immerhin 408 Meter höher als das höchste Gebäude der Erde, dem Burj Khalifa in Dubai. Wie wir seit Ende Dezember wissen, das letzte Stück Steinkohle ist ans Tageslicht gebracht, der Rest bleibt wohl für immer dort unten. Dort unten, auf der siebten Sohle im Schacht 10, wo wir gerade unsere Reise ans Tageslicht begannen, genau dort hat der Chor des Westdeutschen Rundfunks in einer bemerkenswerten Akustik einen passenden Abschied gesungen, mit dem wir unsere Reise in die unendliche Unterwelt unter dem Kohlenpott abrunden wollen.