Die Vereinten Nationen haben angesichts der Coronakrise noch einmal auf die äußerst schwierige Lage von Sexarbeiterinnen hingewiesen. Die Staaten, sagen die Vereinten Nationen, müssten die Menschenrechte auch dieser Berufsgruppe schützen und vor allen Dingen mehr schützen.
Die langjährige "Spiegel"-Kollegin Barbara Schmid hat einen Fall von Zwangsprostitution begleitet, der mehr als nur ein Grenzfall ist. Sie hat Katharina getroffen und ihr Vertrauen gewonnen. Katharina war 14 Jahre in den Fängen eines sogenannten Loverboys, eines fast 30 Jahre älteren Mannes - eine Beziehung, rekonstruiert im soeben erschienenen Buch "Schneewittchen und der böse König". Durch diese Begegnung, so Schmid, habe sich auch ihr Blick auf die Prostitution verändert.
Jürgen Zurheide: In Kurzfassung, was ist Katharina passiert?
Barbara Schmid: Katharina war eine Zwangsprostituierte. Er hat sie über elf Jahre lang auf den Strich geschickt – das erste Mal mit 17einhalb. Er hat ihr Vertrauen gewonnen, als sie fast noch ein Kind war, und Katharina ist wirklich brutal und menschenverachtend ausgebeutet worden von ihm. Er hat sie quasi abgerichtet, wie er früher vielleicht seine Pferde dressiert hat, und Katharina hat Tagebuch geführt, hat auch Listen geführt und kann deshalb sehr gut nachweisen, dass sie in diesen elf Jahren etwa 25.000 Männer – ja, wie nennen wir das – bedienen musste. Es waren teilweise 20 am Tag, aber in der Spitze auch 40, und das zeigt eigentlich, mit was für einem grauenvollen Geschäftsfeld wir es hier zu tun haben.
"Man nennt das Hörigkeit"
Zurheide: Wie kann man denn diese Abhängigkeit erklären, vor allen Dingen über einen so langen Zeitraum? Als Außenstehender stutzt man da und sagt, das kann doch eigentlich alles gar nicht sein. Aber es ist so, oder?
Schmid: Absolut! – Ich habe darüber auch ein langes Gespräch mit der forensischen Psychiaterin Dr. Saimeh geführt, weil natürlich tauchen Fragen auf. Katharina war dann acht Jahre lang in einem Bordell, das offiziell auch auf ihren Namen lief. Sie hätte natürlich jeden Tag rausgehen können, aber das Gefängnis von ihr bestand nicht aus Schlössern und Türen, sondern das Gefängnis war im Kopf. Man nennt das Hörigkeit. Wir haben es bei diesen Lover Boys oder auch Zuhältern mit einer bestimmten Masche zu tun. Sie versuchen, das Vertrauen dieser meist sehr jungen Frauen, die teilweise noch in der Pubertät stecken und dann sehr anfällig sind, zu gewinnen. Die Frauen verlieben sich in diese Männer. Sie versprechen, ihnen die allerschönsten Träume zu erfüllen. Hier war es dann der eigene Reitstall. Und dann entsteht eine solche Hörigkeit, dass sie gar keinen eigenen Willen mehr haben und auch gar nicht mehr gehen können.
Die Masche der Lover-Boys
Zurheide: Was hat das eigentlich für die eigene Familie von Katarina in dem Fall bedeutet?
Schmid: Das war ganz furchtbar. Ich habe die Familie auch über viele Jahre begleitet. Es sind Narben auf allen Seiten geblieben, sehr tiefe Narben. Die Familie hat ja wirklich auch alles versucht, dieses Kind, diese Heranwachsende und später die junge Frau da rauszubekommen. Sie müssen sich mal vorstellen, dass der Vater und nachher auch die älteren Söhne durch die Bordelle gezogen sind. Er hat sein Kind gesucht und er fand sie auch einmal, aber sie ist dann abgehauen. Das was der Familie damals gar nicht klar war: Auch wieder der Punkt Hörigkeit. Sie wäre auch gar nicht mitgegangen, denn diese Masche dieser Täter, dieser Psychopaten besteht ja darin, zunächst einen tiefen Keil zwischen das Mädchen und die Familie zu treiben, und die Familie hätte es aus eigener Kraft gar nicht geschafft, sie da rauszuholen. Dass Katharina dann im Endeffekt diese lange Strecke überstand und am Schluss dann auch noch mal fast totgeschlagen wurde von diesem Mann, das hat es ihr erst ermöglicht, da rauszukommen.
Zurheide: Jetzt müssen wir über die Männer reden. Die leben ja vermutlich gerne mit der Illusion, dass das alles freiwillig sei, oder sie glauben da einfach dran, oder vielleicht nicht mal das. Was haben Sie da mitbekommen?
Schmid: Absolut richtig, was Sie sagen. Vielleicht kann man das an einem Beispiel erklären. Katharina schildert mir wieder mal, wie er sie zusammengeschlagen hat, wo sie die anderen Frauen ankleiden mussten, weil sie gar nicht mehr in der Lage war, das selber zu tun, und so viel Kosmetik gab es auch gar nicht, um die blauen Flecken zu überschminken. Ich habe dann in meiner Naivität gesagt: Ja, mein Gott, das ist doch geschäftsschädigend. Dann hat sie nur gelacht und gesagt: Nein, das waren die Zeiten, in denen ich am meisten Geld verdient habe.
"Nur wenige halten das für einen guten Job"
Zurheide: Kann nicht wahr sein!
Schmid: Ja! – Und sie sagte auch, sie hat am Anfang ja noch in Laufhäusern gearbeitet, und wenn dann da die Zwangsprostituierten aus Osteuropa, aus Afrika oder wo auch immer standen und dann am Anfang natürlich in der Anfangszeit erst geheult haben, wenn Männer auf sie zukamen und sie ausgesucht haben, diese Frauen wurden besonders gerne genommen. Das kann man sich kaum vorstellen, aber es ist so.
Zurheide: Zum Schluss, Frau Schmid, ganz kurz das Stichwort Politik. Die Politik versucht, das ja sozialversicherungspflichtig zu machen, als normalen Beruf zu zeigen. Ist das, was sie hier uns schildern und was Sie in dem Buch niedergeschrieben haben, ist das ein Einzelfall, oder schauen Sie inzwischen anders auf das Thema?
Schmid: Ich schaue absolut anders auf dieses Thema. Katharina schätzt aus ihren Erfahrungen an verschiedenen, ich nenne es jetzt mal, Arbeitsstätten, dass 90 bis 95 Prozent dieser Frauen es nicht freiwillig tun. Die sind entweder mit falschen Versprechungen aus dem Ausland hier hergelockt worden, sie sind auf Lover Boys reingefallen wie Katharina. Sicher gibt es ein paar Frauen, die es freiwillig tun, die das vielleicht für einen guten Job halten, eine Weile das zu tun, aber die Mehrheit dieser Frauen macht es nicht freiwillig und leidet unendlich darunter, und das ist aus meiner Sicht auch ein Versäumnis der Politik, die ja 2001 schon gedacht haben, wir verbessern jetzt die Lebensbedingungen der Prostituierten, indem wir das liberalisieren, weil sie das Bild einer selbstbestimmten Sexarbeiterin vor Augen hatten. Das ist das absolute Minimum. Ich weiß nicht, wann Sie zum Beispiel das letzte Mal in Berlin waren. Auf den Straßen bieten sich junge Mädchen aus Osteuropa an, kaum bekleidet. Familien wissen gar nicht, wie sie mit ihren Kindern da durchkommen sollen. Das hat doch nichts mit dem idealisierten Sexarbeiterinnen-Bild zu tun, mit dem das 2001 bei uns beschlossen worden ist.
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