Burkhard Müller-Ullrich: Wir aber wenden uns jetzt einer Ausstellung zu, in der es um die Masseneinwanderung in der Neuen Welt geht. Zig Millionen Menschen haben Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ihre europäische Heimat verlassen – meist aus Armut, aber oft auch aus Unternehmungslust oder Freiheitsdurst, oder eben alles drei. Im Berliner "Centrum Judaicum" gibt es jetzt eine Ausstellung, die einen Nebenaspekt der Migration zeigt: den Mädchenhandel. Die Ausstellung heißt "Der Gelbe Schein".
Irene Stratenwerth, Sie sind die Kuratorin: was ist oder was war denn das – ein "Gelber Schein"?
Irene Stratenwerth: Der "Gelbe Schein" ist eigentlich ein umgangssprachlicher Ausdruck für den Prostituiertenausweis, den es speziell in Russland gab – im vorrevolutionären Russland, also bis 1917. Und der war mit besonderen Einschränkungen verbunden. Die Frauen, die diesen "Gelben Schein" beantragten, mussten ihre normalen Personalpapiere abgeben und verloren damit auch sozusagen ihre bürgerliche Identität. Und insbesondere für Jüdinnen hatte dieser "Gelbe Schein" eine Besonderheit: Sie durften und konnten nämlich nur mit diesem "Gelben Schein" sich in einer Großstadt wie St. Petersburg oder Moskau niederlassen. Deswegen war es sozusagen einer der wenigen Wege, überhaupt aus einer Situation herauszukommen, diesen "Gelben Schein" zu beantragen.
Müller-Ullrich: Dass Sie das als Titel wählen, "Gelber Schein", erweckt natürlich Assoziationen, vielleicht auch ein bisschen falsche, nämlich den Gelben Stern. Sie haben ja gerade erwähnt, dass es sich hauptsächlich um Jüdinnen handelt, jedenfalls in Ihrer Ausstellung im Berliner "Centrum Judaicum" geht es darum. Was ist der Link, warum betrifft das hauptsächlich jüdische Mädchen, es gab doch auch andere?
Stratenwerth: Die Besonderheit der Zeit ist, glaube ich, einfach gewesen: Migration von Osteuropa in die Neue Welt nach Süd- und Nordamerika, da waren einfach sehr, sehr viele Juden beteiligt. Und jüdische Frauen und Mädchen hatten es natürlich noch einmal schwerer, sozusagen überhaupt auf eine andere Weise eine eigenständige, legale und irgendwie finanzierte Existenz zu finden. Und das macht Menschen natürlich anfällig dafür, in so einem Gewerbe dann zu landen.
Müller-Ullrich: Das ist eine verborgene Seite der Auswanderungsgeschichte. Es gibt nicht viel Literatur darüber. Das ist ja auch klar, denn Sie sagen, Sie erzählen Lebensgeschichten. Wie ist so was zu recherchieren?
Stratenwerth: Ganze Lebensgeschichten kann man nur in sehr, sehr wenigen Einzelfällen recherchieren. Ausschnitte, Momentaufnahmen von Lebensgeschichten gibt es durchaus. Es gibt zum Beispiel Briefe, die geschrieben worden sind von Frauen an die Botschaft, nachhause, an die Polizei, manchmal auch etwas aus dem Familienbesitz. Es ist aber meistens eben nur ein einzelnes Schlaglicht, was wir bekommen. Wir können in ganz wenigen Fällen nachvollziehen, wie das Leben dann weitergegangen ist.
Müller-Ullrich: Da es sich auch um Zwangsprostitution handelt und Sie auch den Akzent so sehr auf Zwang legen und auf das Niederdrückende an dieser ganzen Geschichte. Blenden Sie nicht einen Teil aus, den man sich durchaus vorstellen kann, dass Mädchen auch da reüssiert haben in Clubs, in Saloons irgendwie Karriere gemacht haben und vielleicht gar nicht so unzufrieden waren mit ihrem Schicksal?
Stratenwerth: Wir blenden das eigentlich nicht aus. Wir erzählen durchaus auch solche Geschichten. Ich würde auch Zwangsprostitution nicht unbedingt in dem Sinne sagen, dass die Mädchen jetzt von finsteren Mächten zur Prostitution gezwungen wurden. Ich würde aber sagen, sehr, sehr viele dieser Frauen waren eben in einer Zwangslage, hatten eigentlich kaum andere Existenzmöglichkeiten. Selbst traditionelle Existenzmöglichkeiten, nämlich darauf zu warten, dass man geheiratet wird, wurden immer weniger in einer Situation, wo eben auch Männer massenhaft emigriert sind. Und natürlich steckt in dem Ganzen auch eine Idee von Aufbruch, eine Idee von anderem Leben und vielleicht auch von der Möglichkeit, es zu etwas Wohlstand zu bringen. Ich glaube, das ist alles gar nicht so viel anders, als das heute auch ist.
Müller-Ullrich: Der Aufbruch jedenfalls, der wurde ja oft von Männern, die einfach für sich keine Zukunft mehr sahen, in Amerika dann versucht, und die haben Familien verlassen und mussten natürlich dort irgendwie auch ihre sexuellen Bedürfnisse befriedigen.
Stratenwerth: Ja, natürlich. Man kann auch ganz klar sehen, dass in den Jahren, mit denen wir uns jetzt hauptsächlich beschäftigen, zumindest in der Altersgruppe zum Beispiel der 18- bis 23-Jährigen ein enormer Männerüberschuss einfach war. Städte wie Buenos Aires in Argentinien waren geprägt von diesem Männerüberschuss. Da waren tatsächlich Frauen im wahrsten Sinne des Wortes Mangelware und deswegen war es sozusagen auch ein lukratives Geschäft, einerseits Frauen dort hinzuvermitteln. Andererseits war es auch für manche Frauen eine Möglichkeit, wirklich Geld zu verdienen.
Müller-Ullrich: Gibt es ein Ziel, das Sie formulieren können für diese Ausstellung, einen Aha-Effekt, den Sie erreichen wollen? Sie hatten ja gerade auch auf die Gegenwart hingewiesen.
Stratenwerth: Das ist jetzt keine pädagogische Ausstellung, wo wir die Hoffnung haben, dass der Besucher dann herausgeht und sagt, das und das habe ich jetzt gelernt. Oder das ist unsere These, die wir vermitteln wollen. Wir wollen uns einfach ein Stück Realität angucken, die zu dieser ganzen Aufbruchbewegung in die Neue Welt einfach dazugehört hat. Und wir denken auch, dass man vielleicht sogar etwas unbefangener sich Geschichten angucken kann von Menschen, die 100 oder 150 Jahre zurückliegen. Und dann von selber sieht, dass es starke Parallelen zur Gegenwart gibt und dass es vielleicht auch in der Gegenwart einfach gut ist, sich für die Realität dieser Mädchen und Frauen zu interessieren, ohne von vornherein mit festen Bildern da ranzugehen.
Müller-Ullrich: Eine Ausstellung über transatlantischen Mädchenhandel in der Zeit zwischen 1860 und 1930 zeigt das Berliner "Centrum Judaicum" in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven. Dort wird Ende August eine Parallelausstellung eröffnet. Und ich sprach mit der Kuratorin Irene Stratenwerth.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Irene Stratenwerth, Sie sind die Kuratorin: was ist oder was war denn das – ein "Gelber Schein"?
Irene Stratenwerth: Der "Gelbe Schein" ist eigentlich ein umgangssprachlicher Ausdruck für den Prostituiertenausweis, den es speziell in Russland gab – im vorrevolutionären Russland, also bis 1917. Und der war mit besonderen Einschränkungen verbunden. Die Frauen, die diesen "Gelben Schein" beantragten, mussten ihre normalen Personalpapiere abgeben und verloren damit auch sozusagen ihre bürgerliche Identität. Und insbesondere für Jüdinnen hatte dieser "Gelbe Schein" eine Besonderheit: Sie durften und konnten nämlich nur mit diesem "Gelben Schein" sich in einer Großstadt wie St. Petersburg oder Moskau niederlassen. Deswegen war es sozusagen einer der wenigen Wege, überhaupt aus einer Situation herauszukommen, diesen "Gelben Schein" zu beantragen.
Müller-Ullrich: Dass Sie das als Titel wählen, "Gelber Schein", erweckt natürlich Assoziationen, vielleicht auch ein bisschen falsche, nämlich den Gelben Stern. Sie haben ja gerade erwähnt, dass es sich hauptsächlich um Jüdinnen handelt, jedenfalls in Ihrer Ausstellung im Berliner "Centrum Judaicum" geht es darum. Was ist der Link, warum betrifft das hauptsächlich jüdische Mädchen, es gab doch auch andere?
Stratenwerth: Die Besonderheit der Zeit ist, glaube ich, einfach gewesen: Migration von Osteuropa in die Neue Welt nach Süd- und Nordamerika, da waren einfach sehr, sehr viele Juden beteiligt. Und jüdische Frauen und Mädchen hatten es natürlich noch einmal schwerer, sozusagen überhaupt auf eine andere Weise eine eigenständige, legale und irgendwie finanzierte Existenz zu finden. Und das macht Menschen natürlich anfällig dafür, in so einem Gewerbe dann zu landen.
Müller-Ullrich: Das ist eine verborgene Seite der Auswanderungsgeschichte. Es gibt nicht viel Literatur darüber. Das ist ja auch klar, denn Sie sagen, Sie erzählen Lebensgeschichten. Wie ist so was zu recherchieren?
Stratenwerth: Ganze Lebensgeschichten kann man nur in sehr, sehr wenigen Einzelfällen recherchieren. Ausschnitte, Momentaufnahmen von Lebensgeschichten gibt es durchaus. Es gibt zum Beispiel Briefe, die geschrieben worden sind von Frauen an die Botschaft, nachhause, an die Polizei, manchmal auch etwas aus dem Familienbesitz. Es ist aber meistens eben nur ein einzelnes Schlaglicht, was wir bekommen. Wir können in ganz wenigen Fällen nachvollziehen, wie das Leben dann weitergegangen ist.
Müller-Ullrich: Da es sich auch um Zwangsprostitution handelt und Sie auch den Akzent so sehr auf Zwang legen und auf das Niederdrückende an dieser ganzen Geschichte. Blenden Sie nicht einen Teil aus, den man sich durchaus vorstellen kann, dass Mädchen auch da reüssiert haben in Clubs, in Saloons irgendwie Karriere gemacht haben und vielleicht gar nicht so unzufrieden waren mit ihrem Schicksal?
Stratenwerth: Wir blenden das eigentlich nicht aus. Wir erzählen durchaus auch solche Geschichten. Ich würde auch Zwangsprostitution nicht unbedingt in dem Sinne sagen, dass die Mädchen jetzt von finsteren Mächten zur Prostitution gezwungen wurden. Ich würde aber sagen, sehr, sehr viele dieser Frauen waren eben in einer Zwangslage, hatten eigentlich kaum andere Existenzmöglichkeiten. Selbst traditionelle Existenzmöglichkeiten, nämlich darauf zu warten, dass man geheiratet wird, wurden immer weniger in einer Situation, wo eben auch Männer massenhaft emigriert sind. Und natürlich steckt in dem Ganzen auch eine Idee von Aufbruch, eine Idee von anderem Leben und vielleicht auch von der Möglichkeit, es zu etwas Wohlstand zu bringen. Ich glaube, das ist alles gar nicht so viel anders, als das heute auch ist.
Müller-Ullrich: Der Aufbruch jedenfalls, der wurde ja oft von Männern, die einfach für sich keine Zukunft mehr sahen, in Amerika dann versucht, und die haben Familien verlassen und mussten natürlich dort irgendwie auch ihre sexuellen Bedürfnisse befriedigen.
Stratenwerth: Ja, natürlich. Man kann auch ganz klar sehen, dass in den Jahren, mit denen wir uns jetzt hauptsächlich beschäftigen, zumindest in der Altersgruppe zum Beispiel der 18- bis 23-Jährigen ein enormer Männerüberschuss einfach war. Städte wie Buenos Aires in Argentinien waren geprägt von diesem Männerüberschuss. Da waren tatsächlich Frauen im wahrsten Sinne des Wortes Mangelware und deswegen war es sozusagen auch ein lukratives Geschäft, einerseits Frauen dort hinzuvermitteln. Andererseits war es auch für manche Frauen eine Möglichkeit, wirklich Geld zu verdienen.
Müller-Ullrich: Gibt es ein Ziel, das Sie formulieren können für diese Ausstellung, einen Aha-Effekt, den Sie erreichen wollen? Sie hatten ja gerade auch auf die Gegenwart hingewiesen.
Stratenwerth: Das ist jetzt keine pädagogische Ausstellung, wo wir die Hoffnung haben, dass der Besucher dann herausgeht und sagt, das und das habe ich jetzt gelernt. Oder das ist unsere These, die wir vermitteln wollen. Wir wollen uns einfach ein Stück Realität angucken, die zu dieser ganzen Aufbruchbewegung in die Neue Welt einfach dazugehört hat. Und wir denken auch, dass man vielleicht sogar etwas unbefangener sich Geschichten angucken kann von Menschen, die 100 oder 150 Jahre zurückliegen. Und dann von selber sieht, dass es starke Parallelen zur Gegenwart gibt und dass es vielleicht auch in der Gegenwart einfach gut ist, sich für die Realität dieser Mädchen und Frauen zu interessieren, ohne von vornherein mit festen Bildern da ranzugehen.
Müller-Ullrich: Eine Ausstellung über transatlantischen Mädchenhandel in der Zeit zwischen 1860 und 1930 zeigt das Berliner "Centrum Judaicum" in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven. Dort wird Ende August eine Parallelausstellung eröffnet. Und ich sprach mit der Kuratorin Irene Stratenwerth.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.