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Protestanten in der Bundesrepublik
Die erste EKD-Synode

Es war vor 70 Jahren: In Bielefeld-Bethel fand die Gründungs-Synode der EKD statt. Ein Ratsvorsitzender wurde gewählt, Kirchengesetze und Pläne für Hilfswerke auf den Weg gebracht. Aber sonst? Eine inhaltliche Neubesinnung nach 1945? Eine Entnazifizierung in den eigenen Reihen? Fehlanzeige!

Von Thomas Klatt |
    Der Berliner Bischof Otto Dibelius, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands, spricht während des Evangelischen Kirchtentages 1959 in München vor Mitarbeitern des Münchner Siemens-Betriebes über die Lage in Berlin und der Ostzone.
    Otto Dibelius wurde 1949 zum Ratsvorsitzenden gewählt (dpa/Gerhard Rauchwetter)
    Der Münchner Kirchenhistoriker Karl-Heinz Fix hat die Protokolle und Dokumente der ersten Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland 1949 in Bethel gründlich gelesen. Er kommt zu einer differenzierenden Einschätzung.
    "Bethel ist kein Signal für einen revolutionären Neubeginn in der EKD. Das ist unbestritten. Aber es ist nicht nur ein Schritt Retour."
    In Bethel sollten Ausschüsse gebildet werden - etwa für Finanzen, Ökumene oder die Kirchengerichtsbarkeit. Und das EKD-Hilfswerk für die Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemals ostdeutschen Gebieten sollte weitergeführt werden.
    "In Bethel geht es darum, dieses junge Pflänzlein EKD zum Laufen zu bringen. Wir brauchen Gremien, die Leitungsämter, wir brauchen den Apparat. Es ging eben in Bethel nicht um eine ekklesiologische Theoriedebatte, sondern es stand im Vordergrund: die Wahl eines neuen Rates."
    "Antisemitismus gehörte bei uns zum guten Ton"
    Die Wahl des ersten EKD-Ratsvorsitzenden Otto Dibelius war richtungsweisend. Dibelius war genau der Theologe, den viele nach dem Ende des Nationalsozialismus wollten. Obwohl er im März 1933 in Potsdam eine vielbeachtete Predigt zum Machtantritt Adolf Hitlers gehalten hatte, in der er aus heutiger Sicht dem Regime ausgewogen wohlwollend entgegentrat. Aber:
    "Otto Dibelius ist auch der Kirchenkämpfer, der seine Berliner Stelle, sein Generalsuperintendenten-Amt verloren hat. Und Otto Dibelius ist derjenige, der nach 1945 in der ansonsten doch sehr handlungsunfähigen Kirche Berlin-Brandenburg das Leitungsamt übernommen hat. Otto Dibelius ist nicht der Belastete."
    Ein Plakat zu Martin Luthers 450. Geburtstag - herausgegeben 1933 von der NSDAP. Unter dem Bild Luthers ist zu lesen: "Hitlers Kampf und Luthers Lehr / Des deutschen Volkes gute Wehr"
    Im Nationalsozialismus waren Kirchen und Regime vielfach wechselseitig miteinander verflochten (imago stock&people)
    Aus der Sicht der damaligen Zeit. Denn 1934 war Dibelius der Bekennenden Kirche beigetreten. Er schien somit unverdächtig. Aus heutiger Sicht müsse Otto Dibelius um einiges kritischer gesehen werden, meint der Berliner Historiker Manfred Gailus.
    "Er hat es mehrfach gesagt in der Zeit nach 1933, aber auch in der Nachkriegszeit: Ein gewisser Antisemitismus gehörte bei uns zum guten Ton. Also ein Antijudaismus von entschiedenen Christen. Und dem gehörte Dibelius selbstverständlich auch zu. Im Jahr 1933, wo er sich sogar exponiert, in der Zeit des Judenboykotts - 1. April - gehört er zu den Leuten, die beschwichtigen und sagen, das ist hier gar nicht so schlimm, es ist alles ganz harmlos verlaufen."
    Nazis und Kriegsverbrecher im Schoß der Kirche
    Auch der Dibelius-Kurs nach dem Krieg sei kritisch zu sehen. Weder er noch die Synode der EKD seien an einer Entnazifizierung in den eigenen Reihen interessiert gewesen.
    "Dibelius nach '45 steuert einen Kurs mit großem Verständnis für die ehemaligen Deutschen Christen. Da gibt es also die extremsten Nazi-Theologen, Joachim Hossenfelder, Leiter der Glaubensbewegung Deutsche Christen, Karl Themel, der nazimäßige Judenforschung in der Kirche betrieben hat, Walter Hoff, ein extremer Nazi, der sich selber gerühmt hat, im Ost-Krieg bei der Judenvernichtung geholfen zu haben, Friedrich Tausch, der fanatische Leiter der Deutschen Christen in Berlin. Alle diese Theologen werden auf die eine oder andere Weise wieder in der Kirche aufgenommen."
    Porträt von Manfred Gailus.
    Der Historiker Manfred Gailus betrachtet den Neuanfang der EKD im Jahr 1949 kritisch (privat)
    Das EKD-Hilfswerk gewährte nach 1945 sogar Prozesskostenhilfe für einstige Nationalsozialisten und mutmaßliche Kriegsverbrecher. Dibelius mit seinem beschwichtigenden Kurs war also der Mann der Stunde: Und so wird er auf der Synode mit 110 Stimmen gewählt - mit einer überwältigenden Mehrheit. Martin Niemöller dagegen, der persönliche Gefangene Adolf Hitlers im KZ Sachsenhausen und Sprecher der sogenannten Bruderräte der Bekennenden Kirche, erhält nur 26 Stimmen.
    Ein Zeichen an die Christen in der sowjetischen Besatzungszone
    Damit war nicht nur eine Neuausrichtung von Anfang an gescheitert, sondern auch eine Neuordnung der Evangelischen weg von den klassischen Landeskirchen. Dazu der Münchner Kirchenhistoriker Karl-Heinz Fix.
    "Diese kirchenpolitische Gruppe wünschte sich einen kirchlichen Neuanfang, Abkehr der Konsistorialrats-Kirche, also Kirche als Gemeinde von Brüdern, Kirche nicht als Organisation irgendeiner Staatsbehörde nachgebildet, Kirchenleute nicht als Funktionsträger, als Beamte, sondern wirklich Kirche von unten, Kirche auf Gemeindebasis, herkommend aus der Tradition der Bekennenden Kirche und der Tradition der Landeskirchen, die seit 1933 keine rechtmäßige Kirchenleitung hatten."
    Dem stellten sich die Bischofskirchen von Bayern, Württemberg, Hannover und Baden entgegen - und setzten sich durch. Eine Kirchenleitung wird installiert. Und zwar in Hannover und nicht - wie ursprünglich geplant - in Göttingen. Hannover als EKD-Amtssitz - das sollte die Anreise des Berliner Bischofs Otto Dibelius erleichtern und war auch als Signal gemeint für Christen in der sowjetisch besetzen Zone. Von Austausch konnte aber immer weniger die Rede sein. Während die Synode tagt, blockiert die Sowjetunion West-Berlin. Karl-Heinz Fix:
    "Und dann kommt nur Otto Dibelius in Frage - mit Blick auf die Berlin-Blockade: Dibelius der Anti-Kommunist, der West-Orientierte."
    "Es gilt, diesen neuen Staat mit aufzubauen"
    Die EKD hat alle politischen Wirren überlebt - 70 Jahre lang. Einer ihrer Ratsvorsitzenden war von 1991-1997 Klaus Engelhardt. Politisch sei die EKD bis heute ein Erfolg, meint Engelhardt. Denn erstmals unterstützte der deutsche Protestantismus aktiv die Demokratie.
    "Es hat sich geändert einmal, dass die evangelische Kirche als ganze nicht mehr einfach, wie es während der Weimarer Republik der Fall war, in der nationalkonservativen Ecke stand und diesen Staat und diese Republik sich selbst überlassen hat. Da trägt der Protestantismus während der Weimarer Zeit doch auch eine erhebliche Schuld an dem Nicht-Ernstnehmen, dem Nicht-Geltenlassen, was an republikanischer Bürgerlichkeit ernst zu nehmen war. Es gilt jetzt, diesen neuen Staat mit aufzubauen."
    Klaus Engelhardt auf der EKD-Synode in Magdeburg 2011
    Für Klaus Engelhardt ist die EKD eine politische Erfolgsgeschichte (imago stock&people)
    Prominente Protestanten wurden prominente Politiker: EKD-Präses Gustav Heinemann wurde Bundespräsident.[*] Der Organisator des EKD-Hilfswerkes Eugen Gerstenmaier wurde Bundestagspräsident. Ebenso Hermann Ehlers, der an der Grundordnung der EKD mitschrieb.
    Verpasste Chancen und der Blick nach vorn
    So weit, so gut. Aber - von einer Theologie nach Auschwitz oder gar einer eigenen kritischen Geschichtsaufarbeitung war man auf der ersten EKD-Synode in Bethel und den folgenden Jahren noch weit entfernt, sagt der Kirchenhistoriker Karl-Heinz Fix.
    "Was in der Vergangenheit war, was man in der Vergangenheit selbst gemacht hat, spielt auf einer EKD-Synode damals keine Rolle. Und die Bücher, die es zu dem Thema 'Kirche im Nationalsozialismus' schon gab, die sind eindeutig bestimmt von der Erzählung: Wir wurden verfolgt. Wir waren Opfer. Wir haben uns gewehrt, vielleicht nicht stark genug, wie man es schon in Stuttgart bekannt hat im Herbst 1945. Die Historiografie wurde nicht von außen gemacht, sondern von den Kirchenkämpfern selbst."
    Die Chance einer selbstkritischen Reflexion sei also vor 70 Jahren bei der Gründungssynode der EKD in Bethel vertan worden. Stattdessen hätten sich die evangelischen Christen nach vorne orientiert.

    [*] Anmerkung der Redaktion
    An dieser Stelle wurde ein Fehler korrigiert: EKD-Präses Gustav Heinemann war dritter deutscher Bundespräsident, nicht der erste, wie irrtümlich im Manuskript geschrieben. Der erste Bundespräsident war Theodor Heuss.