Der Solling, ein Mittelgebirge in Südniedersachsen. An den Wegkreuzungen im Wald stehen Schilder, sie weisen den Weg für Wanderer, Radfahrer, Ski-Langläufer. Dazwischen immer wieder ein lila Kreuz auf weißem Grund. Es markiert den Pilgerweg zwischen Loccum in Niedersachsen und Volkenroda in Thüringen, knapp 300 Kilometer. Am Weg liegen 39 ehemalige oder noch bestehende Klöster und Abteien. Im Mittelalter müssen hier regelmäßig Mönche unterwegs gewesen sein. Das Besondere: Heute ist es ein evangelischer Pilgerweg.
"Als 2005 die Landeskirche angeregt von Margot Käßmann damals beschlossen hat, dass es diesen Weg geben soll als offiziellen Pilgerweg der Landeskirche Hannovers, da haben viele gelächelt und gesagt, na ja, erstens passt das doch nicht zu uns Evangelischen. Das machen doch die Katholiken, dass die pilgern oder irgendwelche Wallfahrten machen oder so."
Beten mit den Füßen
Klaas Grensemann ist Diakon. Er kümmert sich im Kloster Bursfelde um die Pilgernden. Bursfelde, das ist ein kleines Dorf an der Weser mit rund 40 Einwohnern. Das Dorf besteht fast nur aus Gebäuden des ehemaligen Benediktinerklosters. Zur Reformationszeit fiel das Kloster in die Hände der Protestanten, die Mönche durften oder mussten gehen. Die Klosterkirche diente zeitweise als Kuhstall, erzählt Klaas Grensemann. Im ehemaligen Schweinestall, einer gemütlichen Scheune neben dem Kloster, ist heute die Pilgerherberge untergebracht. 14 Doppelstockbetten gibt es hier – und ehrenamtliche Pilgerbetreuerinnen wie Annamarie Joosten. Doch pilgern ihre Gäste – oder wandern sie?
"Also bis jetzt habe ich den Eindruck, dass sie tatsächlich wirklich pilgern. Einige kommen vielleicht erst ein bisschen später dahinter. Ich bin auch als Wanderin angefangen und bin in Loccum angefangen und wollte wandern und saß dort mit meinem Rucksack und fand das einfach reizvoll, und dann kamen Leute auf mich zu, die sahen mich da mit meinem Rucksack sitzen und sagten: 'Ach, Sie pilgern!?' Und dann habe ich gesagt, äh ja. Und dann bekam ich auch in der Kirche meinen Pilgersegen und dann hab ich auch gefühlt, okay, jetzt pilgere ich wohl. Und mit jedem Tag wurde das dann tatsächlich auch so. Es ist schwer zu beschreiben."
Was macht das Pilgern aus im Unterschied zum Wandern? Und was macht das protestantische Pilgern aus im Unterschied zum katholischen? Am Anfang dieser Frage steht Luthers schroffe Absage an das Pilgerwesen seiner Zeit. Er nennt das Pilgern ein "Narrenwerk" und vergleicht es mit dem Ablasshandel. Der Jakobsweg ins spanische Santiago de Compostela ist schon damals beliebt, vor 500 Jahren. "Lauft nicht dahin", mahnt Luther, denn man wisse nicht, ob dort der heilige Jakob begraben liegt oder ein toter Hund.
"Heute würde er vielleicht über das Pilgern auch nochmal anders nachdenken, wenn er sehen würde und erkennen würde, wie Menschen heute pilgern, dass es eher um eine Gottesbeziehung geht."
Klaas Grensemann vom evangelischen Kloster Bursfelde hat einen gravierenden Wandel im Pilgerwesen ausgemacht – bei Protestanten und Katholiken. Egal welcher Konfession: Heutigen Pilgern gehe es ums "Beten mit den Füßen".
"Das war damals natürlich im Mittelalter nicht immer Sinn und Zweck des Pilgerns, sondern es gab ja auch Leute, die Berufspilger waren. Also ein Fürst hat dann irgendwelche Leute eingestellt, die für ihn den Pilgerweg laufen mit dem Glauben, dann kommt der, der die Pilgertour bezahlt, kommt dann dafür in den Himmel oder kriegt irgendwelche Sünden erlassen. Ich denke, darauf hat sich Luther vor allen Dingen bezogen."
Luther: Pilger ist etwas für Narren
Allein durch die Gnade Gottes erfährt der Mensch das Heil. So lautet eine der zentralen Lehren Luthers. Da hilft keine Wallfahrt, und läuft der Pilger noch so weit.
"Es gibt hier nicht das Maß der genug Strecke. Sondern es ist vielleicht eher, dass er genug Muße gehabt hat."
Paul Eckhoff gehört der Bruderschaft des evangelischen Zisterzienserklosters Amelungsborn an. Ein weiteres Kloster am Pilgerweg Loccum-Volkenroda. Die Brüder leben außerhalb des südniedersächsischen Klosters, über ganz Deutschland verteilt. Paul und Dörte Eckhoff betreuen einmal im Jahr Pilgernde in Amelungsborn.
"Selbstbesinnung, Reflexion zu Gott. So stelle ich mir das Pilgern im protestantischen Sinne vor. Dass man versucht, ein Christ zu sein. Und Christ sein heißt, an den Nächsten zu denken."
Der protestantische Charakter des Pilgerwegs Loccum-Volkenroda ist an vielen Stellen zu erkennen. Es gibt keinen Anfang und vor allem kein Ende. Kein heiliger Jakob wartet als Pilgerziel, keine Reliquie oder ähnliches. Man kann von Nord nach Süd laufen oder umgekehrt. Viele gehen nur Teilstrecken, erzählt Klaas Grensemann vom Kloster Bursfelde:
"Ich glaube, das würde Luther gefallen. Der würde eher sagen, das ist irgendwie wieder cool, weil das eine Form des geistlichen Lebens ist – vielleicht würde er sogar sagen, das hätte ich glatt erfinden können."
Der katholische Jakobsweg ist beim protestantischen Pilgerweg trotzdem als Vorbild erkennbar: Man kann sich an jeder Station seinen Pilgerpass abstempeln lassen. Und in der Herberge in Bursfelde stehen diverse Bücher zum Jakobsweg. Ein gravierender Unterschied ist allerdings die Nachfrage: Zwischen Loccum und Volkenroda trifft man nur alle paar Stunden mal auf Pilger.
"Mein Name ist Heike Thiel und wir haben uns aufgemacht in Loccum, drei Tage zu pilgern. Also wir, meine Pflegetochter Emily und ich."
Heike Thiel und Emily wohnen in Holenberg im Weserbergland. Der Pilgerweg verläuft direkt durch ihren Heimatort.
"Den Pilgerweg gehen bedeutet für mich Meditation, mit mir selber klarzukommen, solche Dinge. Das ist für mich pilgern."
Autor: "Und mit der Tochter?"
Thiel: "Die Tochter ist – das ist ein Pflegekind und die ist seit einem halben Jahr bei uns und das hat was mit uns gemacht in den letzten zwei Tagen und ich hoffe, dass das für die Zukunft gut ist."
Muße statt Maß
Moderne Pilger empfinden nach, wie sich das Klosterleben früher angefühlt haben könnte. Das Kloster Amelungsborn ist fast 900 Jahre alt. Die Pilgernden übernachten in der Kantorei, direkt neben der Schafweide.
Ein Klosterleben, das Martin Luther abschaffen wollte – zumindest in seiner damaligen Form.
Vier Mal am Tag werden in der evangelischen Klosterkirche in Amelungsborn die Stundengebete gesungen. Beim Abendgebet sind oft auch Pilger dabei.
Hat sich Martin Luther also geirrt mit seinem Satz, dass Pilgern nur etwas für Narren ist? Nicht unbedingt, findet die evangelische Pilgerin Heike Thiel:
"Naja, ein Narr zu sein bedeutet frei zu sein für mich. Und ich hab schon in den letzten Tagen – oder vor allen Dingen gestern war ein harter Tag – hab ich oft gedacht, mein Gott, was bist du für ein Narr, das zu tun und diesen Rucksack zu schleppen?!"