Das Züricher Stadtbild ist stark von der Reformation geprägt: Mitten in der Altstadt liegt der Zwingliplatz und direkt am Zürichsee steht ein knapp fünf Meter hohes Bronze-Denkmal für den Schweizer Reformator. Aber schon hier fällt auf: Die Eidgenossen haben ein gespaltenes Verhältnis zu ihrem Reformator. Zwar ist das Denkmal prächtig - Ulrich Zwingli wird mit Bibel und Schwert dargestellt - aber es steht versteckt, etwas abseits, hinter einer Kirche. Die Schweizer Nüchternheit scheint im Gegensatz zur deutschen Luther-Verehrung zu stehen. Der Züricher Kirchenhistoriker Peter Opitz versucht eine Erklärung:
"In der Schweiz ist eine solche Personenverehrung schon damals nicht möglich - und sie ist auch heute irgendwo nicht möglich. Die Schweizer sind da überaus sensibel, irgendeine Person zu verehren. Sehr sprechende Beispiele sind die Gebäude: In Wittenberg ist eben das Lutherhaus ein Museum, wo man ehrfürchtig schaut, wie Luther da überlebt hat; das Wohnhaus von Zwingli ist heute ein Kulturzentrum, wo gleichzeitig im oberen Stockwerk Privatwohnungen vermietet werden. Also, man geht hier sehr pragmatisch mit der Reformation um und versucht, jede Art von Heldenkult zu vermeiden."
"Die Reformation hat die Schweiz geprägt"
Der Rest Europas schaut immer etwas verwundert auf die Schweiz – auf das kleine neutrale Alpenland, mit seiner eigenen Währung und dem etwas speziellen politischen System. Das hat auch mit der Reformation zu tun, sagt Opitz.
"Ohne die Reformation würde es die Schweiz gar nicht geben. Also die Reformation hat die Schweiz zutiefst geprägt. Natürlich die reformierte Hälfte auf jeden Fall - aber es hat auch sehr stark abgefärbt auf die katholische Hälfte, weil man in der Schweiz auf engem Raum sehr eng zusammenlebt und zusammenleben musste. Warum ich sage, die Schweiz hätte es nie gegeben: Da denke ich an den Dreißigjährigen Krieg. Als es in Deutschland einen großen Konfessionskrieg gab, konnten die Schweizer nichts anderes als neutral bleiben und sich aus dem Krieg fernhalten, weil ja die eine Hälfte katholisch und die andere protestantisch war. Wenn die Schweizer auf irgendeine Seite eingegriffen hätten, dann wären sie wohl auch Teil dieser Seite geworden und hätten ihre eigene Identität verloren."
Wenn die Reformation so wichtig war für die Eidgenossen – wie sieht das heute aus? Im Züricher Künstlerviertel Aussersihl befindet sich die "Streetchurch", die reformierte Jugendkirche in der Stadt. Die jungen Leute, die hier hinkommen, stammen zum großen Teil aus sozial benachteiligten Familien. Die Streetchurch versucht, für sie ein Anker in der Gesellschaft zu sein. Auch Glaube und Religion spielen dabei eine Rolle. Mit Zwingli und der Reformation können die Jugendlichen aber nichts anfangen, sagt Streetchurch-Leiter Philipp Nussbaumer.
"Was ich aber spannend finde ist, dass die Reformation hier in Zürich, auch mit Zwingli, sehr starken Einfluss auf die Gesellschaft hatte. Und ich glaube, da gibt es einen sehr großen Zusammenhang zu dem, was wir jetzt hier machen. Weil wir sagen ja auch als Kirche, oder als Streetchurch, wir wollen Jugendliche wieder integrieren in die Gesellschaft. Oder ein anderes Beispiel: In Zürich war ja in der Reformationszeit der Mushafen ein großes Thema, als die arme Bevölkerung da verpflegt wurde von der Kirche. Und da sehen wir uns schon als diakonische Kirche in dieser Tradition, die sagt: Wir wollen für junge Leute am Rand der Gesellschaft ein Platz sein, wo sie wieder in Kontakt kommen mit uns."
"Zwinglianischer" Einfluss
Die Errungenschaften der Reformation spielen also in der Gesellschaft nach wie vor eine Rolle. Aber anders als im benachbarten Deutschland wird das Reformationsjubiläum in der Schweiz nicht gefeiert: An den Kirchen hängen keine Banner, in den Buchläden liegen keine Reformationsbücher aus – lediglich ein paar Jubiläumsflyer sind zu finden. Kirchenhistoriker Peter Opitz:
"Also das Reformationsjubiläum 2017 wurde uns von Deutschland aufgedrängt. Die Politik hat Millionen-Beiträge beschlossen, um Werbung zu machen, Tourismuswerbung für Wittenberg. Und das hat dann die Schweiz, auch die Schweizer Kirchenpolitik ein Stück weit genötigt, jetzt auch in diesem Jahr Reformation zu feiern. Aber sehr viel zu feiern gibt es nicht. Also die Schweizer Reformation beginnt frühestens 2019. Man kann aber natürlich sagen, als europäisches Ereignis macht es durchaus Sinn, dass man den Thesenanschlag Luthers als Startpunkt nimmt."
Denn erst knapp zwei Jahre nach Luther begann Zwingli seine Glaubensthesen in der Schweiz zu verbreiten. Es war aber nicht Zwingli, der die Schweiz im Alleingang reformierte. Er war zwar der geistige Anführer, der Impulsgeber. Aber letztlich war es eine Gemeindereform. Wie in der Schweiz üblich, stimmte der Rat jeder Stadt über die Reformation ab. Dadurch ergab sich eine enge Verbundenheit zwischen Kirche und Staat. So spricht man in der Schweiz bis heute vom "Zwinglianischen", wenn sich der Staat in das Privatleben des Einzelnen einmischt.
Werner Sieg ist Kirchenpräsident der reformierten Kirche im Züricher Stadtteil Oberstrass. Er hat sich gegen den sogenannten "Zwinglianischen Einfluss" stark gemacht.
"Ich bin ein Angehöriger der 68er Revolution, und wir haben uns damals gegen diese engen Regeln gewehrt, etwa gegen die Polizeistunde, nachts um 12 musste man aus dem Restaurant raus. 1980 gab es nochmal eine weitere Jugendbewegung in Zürich, die das noch weiter getrieben hat und seit den 90er Jahren ist dieses Zwinglianische nicht mehr da. Das heißt: Zürich ist eine viel offenere, viel freundlichere, auch viel lebenslustigere Stadt geworden."
Gespaltenes Verhältnis zur Reformation
Die Reformation habe also die Schweiz nicht nur voran gebracht. So sieht Kirchenpräsident Sieg auch seinen Reformator Zwingli kritisch.
"Er ist ja in der Schlacht von Kappel gefallen. Er ist als 47-Jähriger noch in den Krieg gezogen, für seinen Glauben. Das tönt außerordentlich schön, aber mit meinem christlichen Glauben geht das nicht zusammen. Also für mich ist Jesus nicht derjenige, der in den Krieg zieht. Und deswegen finde ich auch, dass der Reformationsführer nicht in den Krieg ziehen konnte."
Genau wie Martin Luther hat also auch Ulrich Zwingli seine Schattenseiten. Ob die Schweizer ihn dennoch so groß feiern werden, wie die Deutschen ihren Luther, wird sich in zwei Jahren zeigen – beim Zwinglijahr 2019.