Ich stehe an meinem Bürofenster. Von hier aus habe ich freien Blick auf den Bismarckplatz. Es ist der größte öffentliche Platz im Zentrum Heidelbergs. Ein chaotischer Ort. Autos, Busse, Straßenbahnen, Motorräder, Fahrräder, dazwischen überall Menschen - gehend, rennend, sitzend, ein- und aussteigend, Kinderwagen schiebend, Tüten schleppend, telefonierend, bettelnd, einkaufend. Der Verkehr macht den Bismarckplatz vom frühen Morgen bis in den späten Abend zum lautesten Ort der Stadt. Mehrmals täglich droht der Verkehrskollaps. Zahllose Schilder und Hinweistafeln organisieren notdürftig die nicht enden wollende ineinandergreifende Bewegung von Menschen und Maschinen. Was wäre, wenn der Bismarckplatz besetzt würde? Wenn eines Tages plötzlich hunderte oder gar Tausende von Menschen damit beginnen würden, friedlich Zelte zu errichten. Wenn auf Bannern und Plakaten demokratische Forderungen geschrieben stünden? Wenn der Verkauf in den Geschäften und der öffentliche Verkehr komplett zum Erliegen käme und die Zufahrtsstraßen von Polizei und Sondereinsatzkommandos abgeriegelt würden? Würde der Platz besetzt, würde die eingeübte, routinierte und unbewusst sich wie im Naturzustand vollziehende Bewegung in Heidelberg unterbrochen. Warum einen öffentlichen Platz besetzen? - Ein Essay von Christoph Burgmer
In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche öffentliche Plätze besetzt. Mit unterschiedlichen Zielen. In Kairo und Kiew war es die Absicht, den jeweiligen Präsidenten zum Rücktritt zu zwingen und das Regime zu stürzen. Dort kam es während der monatelangen Besetzung zu Kämpfen mit Polizei und Militär mit zahlreichen Toten und Verletzten.
Auch auf anderen Plätzen ereignete sich Ähnliches. Doch die Besetzer hatten andere Ziele. Der Taksimplatz in Istanbul wurde besetzt, um zu verhindern, dass in einem Park im Zentrum ein Kaufhaus errichtet werden sollte. Die Regierung ließ den mit zehntausenden Menschen besetzten Platz räumen. Insgesamt wurden fünf Menschen getötet und 8.100 verletzt.
Als 5.000 Demonstranten im April 2011 den Sa'a-Dschadida-Platz, den Uhrenplatz in Homs, der drittgrößten Stadt Syriens besetzten, um den Rücktritt von Präsident Baschar al-Assad zu fordern, ließ der seine Sicherheitskräfte mit scharfer Munition auf die unbewaffneten Demonstranten schießen. Es war der Auftakt zu landesweiten Protesten, deren brutale Unterdrückung zum bis heute andauernden Bürgerkrieg in Syrien führte.
Die Plaça de Catalunya in Barcelona und die Plaça del Sol in Madrid waren 2011 durch die "indignados" , die "Empörten", besetzt. Auf dem Höhepunkt der spanischen Finanzkrise protestierten sie gegen die Kürzung von Sozialleistungen und gegen Privatisierungspläne der Regierung.
Gegen das Spardiktat der Troika wurde in Griechenland mehrfach der Syntagma-Platz in Athen besetzt.
Die Occupy-Bewegung agierte weltweit. Die Besetzung von Plätzen vor den zentralen Finanzplätzen in New York und Frankfurt erregte großes Aufsehen. Erst vor wenigen Wochen erhielt die Londoner Polizei juristisch die Erlaubnis, den Paternoster-Platz in unmittelbarer Nähe der Londoner Börse zu räumen. Seit 2011 hielten ihn Aktivisten der Occupy-Bewegung besetzt, um "für Demokratie und Umwelt" und gegen das "Primat des Profits" zu demonstrieren.
Ein anderes Motiv hatte die Besetzung des Bundesplatzes in Bern 2014. Hier reagierten die Besetzer unter dem Motto "Kein Platz für Nazis und NationalistInnen - Bern bleibt bunt!" auf die Annahme restriktiver Einwanderungsgesetze durch die Bevölkerung in einer Schweizer Volksabstimmung.
Auch in Deutschland kam es zu Platzbesetzungen. Der Oranienplatz in Berlin war für fast eineinhalb Jahre besetzt. Flüchtlinge aus unterschiedlichen Ländern, die in Deutschland Asyl beantragt hatten, forderten einen gesicherten Aufenthalt. Am Ende einigte sich ein Teil der Besetzer mit den Behörden und verließ den Platz freiwillig, die Verbliebenen wurden von der Polizei geräumt. In München besetzten staatenlose Flüchtlinge 2013 den Rindermarkt und traten in den Hungerstreik. Sie forderten eine Lösung für ihre rechtlose Situation.
In Dresden wurden im Februar 2011 Plätze in der Innenstadt besetzt. Damit verhinderten Demonstranten den genehmigten Aufmarsch von 6.000 Neonazis. Doch anders als in Berlin gingen die Behörden in Dresden mit juristischen Mitteln gegen einige der Besetzer vor. So wurde der sächsische Landtagsabgeordnete der Grünen, Johannes Lichdi, 2014, drei Jahre nach der Besetzung, wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz zu einer Geldstrafe verurteilt. Rechtsgrundlage war der Artikel 8 des Grundgesetzes. Darin heißt es zwar:
"Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln."
Allerdings heißt es im nachfolgenden Satz:
"Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden."
Urteil: Ziviler Ungehorsam bricht geltendes Recht
Damit kann das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, in der Regel geschieht dies bei Platzbesetzungen, eingeschränkt werden. Gerichte, wie auch das Landgericht Dresden 2014, interpretierten eine Platzbesetzung als Blockade. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft argumentierte im Fall Lichdi, dass es sich bei der Menschenansammlung nicht um eine vom Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gedeckte Protestkundgebung, sondern, da man dem Naziaufmarsch die Möglichkeit der Versammlung verwehrt hatte, um eine Verhinderungsblockade gehandelt habe. Mit dieser Begründung folgte das Gericht einer seit den Studentenprotesten in den 60er-Jahren gängigen und insbesondere während der Proteste gegen den NATO-Doppelbeschluss in den 80er-Jahren häufig angewendeten Argumentation.
Vorbild ist das sogenannte Laepple-Urteil aus dem Jahr 1969. Darin lehnte der Bundesgerichtshof zivilen Ungehorsam als eigenständigen Rechtfertigungsgrund für die Besetzung eines öffentlichen Platzes ab. Für die als Sitzblockade bezeichnete Platzbesetzung wurde der damalige ASTA-Vorsitzende der Universität Köln Klaus Laepple als Rädelsführer verurteilt. Als Begründung führte das Gericht aus, dass
"die Anerkennung eines Demonstrationsrechts in dem von der Strafkammer angenommenen Maße auf die Legalisierung eines von militanten Minderheiten geübten Terrors"
hinausliefe. Ziviler Ungehorsam breche geltendes Recht, so die Richter weiter, verletze die innerstaatliche Friedenspflicht, verstoße gegen das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz und setze sich über das Mehrheitsprinzip hinweg. Eine bis heute fragwürdige Begründung. Denn das für Wahlen geltende Mehrheitsprinzip wird damit solcherart ausgedehnt, dass es auch zur Regelung der Beziehung zwischen ziviler Gesellschaft und demokratischem Staat Anwendung findet.
Der funktionierende Verkehr auf einem öffentlichen Platz wird juristisch als unabdingbarer Bestandteil der staatlichen Ordnung angesehen.
Da aber eine Platzbesetzung, nicht nur in demokratischen westlichen Gesellschaften, immer den Tatbestand zivilen Ungehorsams erfüllt, zieht diese automatisch den Konflikt mit staatlichen Autoritäten nach sich. Die Platzbesetzer nehmen für sich in Anspruch, die Demokratie vom Kopf auf die Füße stellen zu wollen und beziehen sich auf das Prinzip der "direkten Demokratie". Alle Gewalt geht vom Volke aus.
Jede Platzbesetzung ist ihrer Überzeugung nach eine Befreiung von politischer Bevormundung, egal ob und wie sie politisch legitimiert ist. Nicht von oben nach unten, sondern vice versa soll die Politik wirksam werden. Das Erste, was die Besetzung eines öffentlichen Platzes deutlich hervorbringt, ist das radikale Nein der Besetzer gegenüber der politischen Entscheidungsfindung, wie sie normalerweise in staatlichen Institutionen, Parlament, Stadtrat, Verwaltung sich vollzieht.
Macht des Staates wird infrage gestellt
Aber sie ist noch mehr. Eine Platzbesetzung stellt die Macht des Staates und damit seine Institutionen und Regelungsorgane wie Polizei und Militär für die Öffentlichkeit sichtbar, infrage. Auf einem begrenzten, klar definierten Raum: dem öffentlichen Platz. Vor den Augen der Öffentlichkeit wird damit für eine unbekannte Dauer das Machtverhältnis zwischen Staat und Besetzern verhandelt.
Aber auch die sozialen Beziehungen der Besetzer untereinander werden in aller Öffentlichkeit sichtbar. Es entstehen Zeltstädte, in denen alternative Organisations- und Umgangsweisen ausprobiert werden. Neben der Versorgung mit dem alltäglichen Bedarf von Toiletten bis zu Friseuren, gibt es Kindergärten, Ladestationen für elektrische Geräte, Theater- und Musikaufführungen, Wandzeitungen, Alphabetisierungskurse, speakers corners und Versammlungsräume.
Nach der monatelangen Besetzung des Oranienplatzes in Berlin konnte man die unterschiedlichen Interessen der Besetzer sehen. Einige wollten sich auf die behördlich zugesicherte, schnelle Prüfung des Aufenthaltes einlassen, andere die Besetzung aufrechterhalten, um den Staat zu einer grundsätzlichen Veränderung des Umgangs mit eingewanderten Migranten zu zwingen.
Die Dauer der Besetzung eines Platzes erzeugt eine eigene politische und soziale Dynamik. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Besetzung des Majdan, des zentralen Platzes in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, betrachtet. Die erste spontane Besetzung erfolgte aus Protest gegen Korruption und Oligarchentum durch eine Vielzahl unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen. Ihre Ziele veröffentlichte der sogenannte "Zivilrat des Maidan", dem zivilgesellschaftliche Bewegungen, Organisationen, Verbände und nichtpolitische Initiativen angehörten, am 18. Dezember 2013 in einem Manifest.
"Wir, Vertreter der Zivilgesellschaft der Ukraine, im Bewusstsein unserer Verantwortung für unsere Nachkommen, in Sorge über die plötzliche Abkehr von der Europäischen Integration der Ukraine, verurteilen den Einsatz von Gewalt durch die Spezialkräfte des ukrainischen Innenministeriums gegen friedliche Demonstranten. Und ohne Zweifel, dass eine weitere Konfrontation und Eskalation des Konflikts die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine bedroht, überzeugt, dass der Weg aus der Sackgasse, in der sich das Land befindet, ausschließlich mit den politischen Bemühungen und ohne die aktive Beteiligung der Zivilgesellschaft nicht möglich sein wird, fordern wir die Regierung und die Opposition auf, öffentliche Verhandlungen mit Liveübertragung in den Medien in gleichberechtigter Beteiligung [mit der Zivilgesellschaft] zu beginnen. Wir erklären, dass wir, im Falle des Scheiterns der Verhandlungen im vorgeschlagenen Rahmen, die friedlichen Proteste fortsetzen werden und appellieren an die Bürger der Ukraine, ihre Rechte und Freiheiten zu verteidigen."
Es schien, so berichten Beobachter, die die Proteste vor Ort miterlebt haben, dass die ukrainische Gesellschaft deutlich machen könne, wie sie leben wolle. Ihrem Wesen nach war die Besetzung spontan, unorganisiert, politisch diffus und von einem tiefen Misstrauen gegenüber politischen Ideologien und Vereinnahmungsversuchen gleich welcher Richtung bestimmt. Doch im Verlaufe der monatelangen Besetzung gewannen zunehmend radikale ultranationalistische und faschistische Gruppen die politische Deutungshoheit auf dem Majdan. Sie nutzten die zivilgesellschaftliche Bewegung und setzten auf direkte Gewalt, sowohl gegen Andersdenkende auf dem besetzten Platz selbst als auch gegen die gewählte Regierung. Nach der Absetzung des Präsidenten führte der radikale Ultranationalismus unmittelbar in eine militärische Konfrontation in der Ostukraine, in der bedeutende Teile der Bevölkerung Russen sind.
Die Bilder einer lange vergangenen Reise tauchen auf. An einem der ersten Frühsommertage 1986 besuchte ich den Tian'anmen-Platz im Zentrum der chinesischen Hauptstadt. Es ist einer der größten Plätze der Welt. So groß, dass trotz der Tausenden von Fahrrädern und Fußgängern, die ihn damals noch bevölkerten, ich kaum jemals ein Gefühl von Enge empfand. Das neue China feierte sich in den Massenveranstaltungen auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Drei Jahre nach meinem Besuch in China wurde der Platz besetzt. Studenten hatten die Kommunistische Partei und ihren Staat herausgefordert.
"Heute ist der 8. Juni 1989. Es ist vier Uhr nachmittags. Ich bin Chai Ling, oberste Befehlshaberin der Garnison, die den Tian'anmen-Platz bewachte. Premierminister Li Peng hat am 3. Juni um 10 Uhr drei Befehle gegeben: Erstens, dass das Militär das Feuer eröffnen soll, zweitens, dass das Militär unter allen Umständen, mit größter Schnelligkeit und um jeden Preis am 4. Juni den Platz wieder zurückgewinnen soll. Und dass drittens die Anführer und Organisatoren der Besetzung, sobald sie auftauchen, ohne nachzufragen zu erschießen sind. Kameraden, das ist die Wirklichkeit unserer verrückt gewordenen, unverantwortlichen und illegitimen Regierung. In Beijing passiert gerade ein Massaker. Aber Kameraden, je dunkler es wird, desto eher wird der Sonnenaufgang kommen. Genossen, Staatsbürger mit einer Überzeugung, Chinesen, erwacht! Der Sieg gehört dem Volk."
25 Jahre später, lese ich den Brief von Chai Ling. Die Studentin war die selbst ernannte Befehlshaberin des besetzten Platzes. Sie beschreibt nicht nur die dramatischen Geschehnisse, die mit der gewaltsamen Räumung des Platzes verbunden waren, sie drückte ebenso am Ende eine Hoffnung aus, die bis in die Gegenwart für viele Platzbesetzer in allen Ländern Gültigkeit haben. Es ist die erste Platzbesetzung, die weltweite Aufmerksamkeit hervorrief, und war die Blaupause für alle, die seit 1989 noch folgen sollten.
Platzbesetzung macht Hoffnungen
Keine Platzbesetzung hat jemals die Hoffnungen erfüllt, mit denen die Besetzer sie begonnen haben. Und dennoch hinterlässt jede Besetzung deutliche Spuren im politischen System. Der Staat ordnet sein Verhältnis zur Gesellschaft neu. Und zeigt sich als neue Ordnung wiederum öffentlich auf seinen Plätzen. Auch in China. Der Platz des Himmlischen Friedens in Beijing gleicht heute einem Hochsicherheitsbereich. Will man ihn betreten, zugänglich zwischen fünf Uhr morgens und zehn Uhr abends, wird man erkennungsdienstlich behandelt. Ausweis, Metalldetektor und Leibesvisitation. Jede Bewegung wird videoüberwacht. Es geschieht nichts, ohne dass eine Kamera es aufzeichnet.
Eine eingeführte Methode. Die Überwachung zentraler städtischer Plätze steht historisch am Beginn der Kontrolle des öffentlichen Raumes. Die Piazza, der Geburtsort des demokratischen Europas in der Renaissance, ist geografisch in den oberitalienischen Städten verortet. Sie repräsentiert das neu errungene politische Selbstbewusstsein freier Stadtbewohner. In Venedig ist dieses Freiheitsideal schon früh wieder verloren gegangen. Der zentrale öffentliche Platz dient von nun an vornehmlich der Repräsentation autoritärer Ordnungen. Öffentliche Plätze werden über Jahrhunderte mit den zentralen Symbolen der jeweiligen Herrschaft ausgestattet. Denkmäler und Brunnen, Bauten, Fahnen und Flaggen. Auch der moderne Staat zeigt sich und die den Bürgern zugedachte Ordnung auf dem zentralen Platz. Faschistische, kommunistische oder republikanische Staaten inszenieren sich.
Politisch endet diese Epoche mit der Niederlage des Kommunismus am Ende des Kalten Krieges. Danach verliert der öffentliche Platz, wenn man so will, für alle sichtbar seine symbolische Bedeutung. Die Denkmäler, Zeichen und Symbole der ehemaligen Gegner sind entwertet. Es beginnt eine Epoche, in der die Herrschaftszeichen zunehmend virtuell vermittelt werden und global wirksam sind. In der Realität des städtischen Alltags entsteht ein Machtvakuum. Erst jetzt beginnen die Platzbesetzungen in aller Welt. Jetzt entlädt sich die Ablehnung der durch die global entfesselte Kapital- und Verwertungsströme einzig zu Konsumenten degradierten politischen Subjekte gegen die weder Sicherheit noch Perspektive versprechenden staatlichen Ordnungen. Die Stadtbewohner handeln in Notwehr. Sie erneuern die historischen Forderungen nach Freiheit und Emanzipation. Die Platzbesetzung ist ein städtisches Ereignis und die Stadtbewohner handeln in Notwehr, da konkrete Möglichkeiten politischer Einflussnahme versperrt sind und die Selbstorganisation häufig verwehrt wird.
Warren Magnusson, politischer Theoretiker an der kanadischen Victoria Universität, bezweifelt 2011 in seiner Veröffentlichung "Politik der Urbanisierung", dass die globale totalitäre Überwachung trotz aller technischen Möglichkeiten erfolgreich sein kann. So bleibt die Platzbesetzung als radikalste Form einer ausdifferenzierten Zivilgesellschaft, um demokratische Rechte einzufordern.
"Kein Zweifel, jede Lebensführung enthält einen Teil Selbstorganisation. Diese Selbstorganisation ist besonders notwendig im städtischen Leben. Die Menschen sind gezwungen sich, in einer Umgebung mit vielen Fremden zu disziplinieren und bis zu einem gewissen Punkt tun sie es auch. Gewiss, das städtische Leben hat Regeln und diese Regeln müssen eingehalten werden, wenn eine Stadt funktionieren soll. Aber man kann die vielen Menschen nicht überwachen und Behörden können sie nicht effizient steuern. Die Regeln müssen verstanden, akzeptiert und freiwillig beachtet werden. Dazu müssen Städte Möglichkeiten der Selbstorganisation bieten. Es ist erst die Wahrnehmung dieser Möglichkeiten, die Handlungen vieler Menschen im urbanen Leben ausmacht." Warren Magnusson
Platzbesetzung fordert Richtungsänderung heraus
Der öffentliche Platz ist der Ort, auf dem der Anspruch der Ordnung auf Regelung der gesellschaftlichen Bewegung verdeutlicht wird. Die Platzbesetzung ist ein definitives Nein, das genau diese Bewegung stoppt und eine Richtungsänderung fordert, auch, wenn die zukünftige Richtung häufig nicht klar definiert ist. Dennoch werden die zunehmend autoritärer agierenden Ordnungen weltweit herausgefordert. Vielleicht werden deshalb im digitalen Zeitalter zentrale Plätze per Video überwacht. Ob in London, New York, Tokio, Beijing oder Moskau. Es scheint so, als solle vorsorglich jede Möglichkeit einer organisierten Opposition mit der Begründung sogenannter allgemeiner Sicherheit - altbekannter Vorwand autoritärer Systeme - unterbunden werden.
"Der Tahrirplatz in Kairo ist seit 40 Jahren unser heiliger Gral gewesen. Seit 1972 haben Demonstranten versucht, ihn zu besetzen und sind gescheitert. 2010 ist es uns gelungen, eine Verkehrsinsel zu besetzen. Eine Stunde lang. Wir waren weniger als 50 Personen, umgeben von über 2.000 Sicherheitskräften. Dann haben wir unsere Strategie geändert. Wir organisierten Demonstrationen in den informellen Vierteln der Stadt, dezentral in den kleinen Straßen und Gassen und waren überrascht, dass sich uns innerhalb von eineinhalb Stunden 3000 Leute anschlossen. Wir fragten sie: Würdet ihr gegen Mubarak demonstrieren? Unsere Botschaft war: Haltet zusammen, ohne Gewalt anzuwenden. Wir versuchten, so viele Gruppen wie möglich zu erreichen, auch die Ultra-Fußballfans der großen Clubs al-Ahly und Zamalek. Verschiedene Gruppen arbeiteten dezentral voneinander. Dann einigten wir uns darauf, es am 25. Januar 2011 zu versuchen. Alle diese Erfahrungen kamen zusammen und so konnten wir den Tahrirplatz zur Überraschung der Sicherheitskräfte besetzen."
Die Besetzung des Tahrirplatzes ist deshalb etwas Besonderes, weil die Strategie der Besetzer genau dokumentiert ist. Ein ägyptischer Aktivist aus der Jugendbewegung des 6. April erklärte mir 2012, wie genau man die Besetzung plante und wie sie ablief. Die Bewegung hatte sich 2008 gegründet. Man unterstützte streikende Textilarbeiter in der Industriestadt Mahalla im Nildelta, in dem man über Facebook dazu aufrief, am Tag des Streiks nicht in Schule oder Universität zu gehen. Die Bewegung probierte neue Formen des Protestes aus. Am 25. Januar 2011, dem nationalen Feiertag für die ägyptische Polizei, starteten kleine Gruppen von bis zu 50 Aktivisten in den kleinen Gassen von fünf Wohnvierteln und riefen die Bewohner zur Demonstration gegen das Mubarak-Regime auf. "Kommt runter, macht mit", riefen sie und immer mehr Menschen schlossen sich an. Erst als die verschiedenen Demonstrationszüge auf einige tausend angewachsen waren, führte man sie aus den dicht bevölkerten Vierteln zeitgleich zum Tahrirplatz.
Der Tahrirplatz wurde in den zweieinhalb Jahren bis zum Militärputsch im Juni 2013 immer wieder besetzt. Von immer wieder anderen Gruppen, teilweise auch gleichzeitig, von den Muslimbrüdern bis zu Gewerkschaftlern, von Bürgerrechtsgruppen, Parteien und Feministinnen. Sie stellten sich mit Parolen und Gesängen öffentlich in Konkurrenz zueinander. Der besetzte Platz ist, im Idealfall, das Experimentierfeld zukünftigen Zusammenlebens.
Eine Platzbesetzung ist kein Zufall. Sie passiert nicht. Niemals einfach so. Jede Platzbesetzung ist geplant. Sie wird vorbereitet. Sie folgt einer Logik. Sie hat ein Ziel. Es ist wie bei einer Theaterinszenierung. Auch hier bedarf es vielfältiger monatelanger Vorbereitungen, bis die Premiere stattfindet und das Stück endlich aufgeführt wird. Der Platz ist die Bühne der Gesellschaft. Wird er besetzt, beginnt die Aufführung. Die Gesellschaft ist das Publikum. Sie entscheidet über Erfolg und Misserfolg. Vielleicht muss das Stück wieder und wieder aufgeführt werden. Ein gefährliches Spiel, denn jede Platzbesetzung trifft den Nerv kapitalistischer Verwertung. Wer die Ordnung stört, wer die vorgeschriebenen Abläufe unterbricht, gerät unweigerlich in Konflikt mit dem Staat. Und damit zu denjenigen, die für sich das Recht herausnehmen, durch den Staat. wie auch immer legitimiert, die Ziele der Gesellschaft zu definieren.
Kollektiver Rausch der Platzbesetzung
Jede Platzbesetzung erzeugt eine Art kollektiven Rausch. Insbesondere dann, wenn sie mit Zustimmung und unter Beifall des Publikums, der Gesellschaft erfolgt. Es ist vergleichbar mit der Euphorie, die der Gewinn eines Titels bei den Fußballfans erzeugt. Auch sie besetzen in ihrer Euphorie öffentliche Plätze, ohne jedoch politisch zu sein. Doch dies kann sich schnell ändern, wie man in Ägypten sehen konnte. Während der Besetzung des Tahrirplatzes 2011 spielten die organisierten Fans der beiden bekanntesten Kairoer Fußballvereine eine entscheidende Rolle.
"Wir haben eigentlich nur das Gleiche gemacht, was wir auch nach einem großen Sieg unserer Mannschaften machen. Wir haben den Platz besetzt. Aber die Besetzung des Tahrirplatzes war wie ein Switch. Denn plötzlich ist uns klar geworden, dass der Fußball nur genutzt wurde, damit sie unseren Frust über das Mubarak-System kanalisieren konnten. Und wir haben erkannt, dass wir in Wirklichkeit einen Platz besetzen, um die Ordnung zu stürzen."
Der 1. Juni 2014 ist der Jahrestag der Besetzung des Gezi-Parks im Zentrum Istanbuls. Die islamistische Regierung Erdoğan befürchtet, dass der Platz von Gegnern des Regimes wieder zurückerobert werden könnte. Pläne, in dem Park ein Einkaufszentrum zu errichten, hatten im Juni 2013 den Anlass für die Besetzung gegeben. Am Ende demonstrierte man jedoch nicht gegen ein Kaufhaus, sondern gegen ein Symbol, das die neue Verschmelzung von Islam, Kapital und türkischem Nationalismus im öffentlichen Raum verdeutlichen sollte. Der Widerstand gegen die Instrumentalisierung durch die primitive Warenideologie brachte die ungewöhnlichste Koalition in der Geschichte der Türkei zustande. Die in Paris lehrende Soziologin Nilüfer Göle beschrieb die Platzbesetzer im Juni 2013 und hielt genau dieses entscheidende Momentum fest.
"Die Gezi-Bewegung hat die Menschen auf einem Platz vereinigt. Sie hat Menschen, Ideen, Lebensstile und Gruppen zusammengebracht, die sonst nicht zusammenkommen würden. Junge und Alte, Studenten und Bürokraten, Feministen und Hausfrauen, Muslime und Linke, Kurden und Aleviten, Kemalisten und Kommunisten, Fußballfans von Fenerbahçe und Beşiktaş. Alle diese Menschen sind vielleicht nur für einen kurzen Augenblick vereint, aber dieser Augenblick hat die Geschichte des Platzes geprägt und ist eingravierter Bestandteil des kollektiven Gedächtnis."
Platzbesetzungen erzeugen Hoffnung. Man spürt die Euphorie. Die Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft. Damit geht die Tat weit hinaus über das, was sie realpolitisch bewirken kann. Vielleicht wird deshalb die Ordnung gerade auf den öffentlichen Plätzen hergestellt. Und im Falle einer Besetzung wieder hergestellt. Der Staat statuiert ein Exempel an der Gesellschaft. Und dies geht weit darüber hinaus, eine Protestbewegung zu disziplinieren. Hier werden Besitzansprüche an die Zukunft aller geltend gemacht. Der stehende Mann auf dem Taksim in Istanbul und der Student vor dem Panzer in Peking scheinen irgendwie zusammen zu gehören.
Gewaltfreier Widerstand als Ankerpunkt
Ihr gewaltfreier Widerstand erscheint mir wie ein Ankerpunkt in der gleichgeschalteten Bilderwelt des globalen Medienzeitalters. Ihre Ideale transportieren sich über Zeiten, Räume und Kulturen. Sie sind wie vernetzte Erinnerungspunkte einer globalen Utopie, die während der Platzbesetzungen für kurze Zeit Wirklichkeit werden. Der besetzte Platz ist ein Fenster, durch das man für einen kurzen Moment einen Blick darauf erhält, was im Zusammenleben möglich wäre. Beziehungen zwischen den spanischen "Empörten", "Occupy", und den Besetzern im "Arabischen Frühling" werden deutlich.
Alle diese Platzbesetzungen stehen in der Tradition des Tian'anmen-Platzes. Sie sind durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden. Sie sind erste, zaghafte Anzeichen des Selbstbewusstseins einer neuen globalen Stadtgesellschaft, Anzeichen einer urbanen Revolution, die nicht auf den Westen alleine beschränkt bleibt, wie die Revolutionen zuvor. Deren Bedingung ist die Verstädterung der Welt, real und virtuell, die Auflösung des Stadt-Land-Gegensatzes, wie es das Industriezeitalter geprägt hat.
Ich blicke auf den Bismarckplatz. Warum hat niemand den Bismarckplatz besetzt? Von meinem Bürofenster im dritten Stock betrachte ich die Menschen auf dem Platz aus der Vogelperspektive. Aber es ergibt sich kein Muster, jede Gruppe und selbst jeder Einzelne nutzt den Platz in seinem Tempo auf seine individuelle Art und Weise. Zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten sind es andere Menschen mit unterschiedlichen Interessen. Es erscheint mir unsinnig, allgemeine Aussagen darüber treffen zu wollen, wer diesen Platz wie nutzt. Es sind einfach zu viele Menschen, und jeden Tag andere. Also warum überhaupt einen Platz besetzen?
Die Platzbesetzer sind die Avantgarde für ein neues Zusammenleben. Sie machen das Zentrum der Stadt zu einem experimentellen Handelsplatz für einen neuen, einen globalen Gesellschaftsvertrag. Der städtische Platz ist in ihren Augen ein allen zugängliches Experimentierfeld für politische Freiheit und ökonomische Gleichheit und soziale Chancengleichheit. Während der Platzbesetzung ist das Anhalten, das Innehalten, das Unterbrechen das Regierungsprogramm. Jeder bleibt. Niemand geht. Der Verkehr auf dem besetzten Platz muss neu organisiert werden.