Die Studenten schwingen die Hüften singen und lachen. Auf dem Campus der Bogazici-Universität (Anm. d. Red.: dt. Bosporus-Universität) werden die Proteste gegen den neuen Rektor ausgelassen zelebriert. Der Rasen ist umsäumt von viktorianischen Gebäuden, dahinter bietet sich ein herrlicher Blick auf den Bosporus. Doch die Idylle trügt.
Am Rande der Wiese beobachten Zivilpolizisten das Treiben, filmen die Demonstranten. Vor den Toren des Uni-Geländes unzählige Polizisten und einige Wasserwerfer. Am 4. Januar kam es hier zu extremer Polizeigewalt, erinnert sich die 21-jährige Studentin Ebru Batur:
Polizeigewalt gegen türkische Studierende
"Tagsüber wurden Wasserwerfer und Gummigeschosse auf uns gerichtet. Nachts wurden die Häuser unserer Kommilitonen gestürmt, die Türen aufgebrochen, ihre Familien auf den Boden gedrückt, ihnen Waffen an die Schläfen gehalten. Was hatten sie verbrochen? Selbst die Erdogan-Regierung musste sie am nächsten Tag wieder freilassen, denn um in Haft zu kommen, braucht es eine Straftat, aber die konnten sie nicht finden. Wir haben nur eine demokratische Forderung ausgedrückt. Sie dachten wohl durch die Festnahmen würden die Proteste abebben, aber es passierte genau das Gegenteil. Am nächsten Tag kamen noch mehr Demonstranten."
Seither halten die Proteste an. Sie richten sich gegen den neuen Uni-Rektor Melih Bulu. Der Wirtschaftswissenschaftler wollte mehrmals für die Regierungspartei AKP kandidieren und wurde von Präsident Erdogan zum Jahresbeginn eingesetzt. Seit 2016 werden türkische Rektoren nicht mehr von den Unis selbst gewählt, sondern vom Staatspräsidenten direkt ernannt. Bulu hatte zuvor noch nie an der Bogazici-Universität als Professor gelehrt, als Wissenschaftler ist er mit massiven Plagiatsvorwürfen konfrontiert. Er soll nun eine der besten Unis des Landes führen.
Studierende fordern Bulus Rücktritt
Die Studenten betrachten ihn als "Zwangsverwalter" und fordern seinen Rücktritt. Mittlerweile haben sich auch die Lehrkräfte der Bogazici-Uni den Protesten angeschlossen: sie demonstrieren jeden Mittag schweigend auf dem Campus, kehren dem Rektorat dabei den Rücken zu. Die berühmte liberale, tolerante Atmosphäre der Uni ist in Gefahr, sorgt sich Soziologie-Professorin Biray Kolluoglu:
"Das ist hier ein freier Ort, an dem kritisches Denken wachsen kann, an dem frei geforscht wird, wo man sich dafür einsetzt. Wer auf den Campus kommt merkt, dass hier ein anderer Wind weht. Ohne diese Freiheit kann Wissenschaft nicht funktionieren. Unser Erfolg rührt daher. Wenn nun das Tor mit Handschellen verriegelt wird und davor Polizei aufmarschiert, dann ist das unvereinbar mit den Werten unserer Universität. Das können wir niemals akzeptieren."
Loyalität zur Regierung zählt mehr als wissenschaftliche Qualität
Die akademische Freiheit ist nicht nur an der Bogazici-Universität bedroht. Denn bei Rektoren-Berufungen überall im Land zählt mittlerweile vor allem Loyalität zur Regierung, sagt Beyzade Sayin von der Bildungsgewerkschaft Egitim-Sen:
"In den letzten Jahren wurden landesweit fast zwanzig Rektoren berufen, die zur Partei des Staatspräsidenten gehören, etwa ehemalige Abgeordnete oder Ortsvorsitzende der Partei. So an die Universität Ankara oder an die Ägäis-Universität in Izmir. Diese Leute haben Partei-Profil, aber überhaupt nichts mit der betreffenden Uni zu tun. Das sind keine Rektor-Berufungen mehr, sondern Einsetzungen von Partei-Kommissaren."
Das wirkt sich auf die Qualität der Lehre aus. Laut einer Studie der Mittelmeer-Universität in Antalya haben von 196 türkischen Uni-Rektoren 68 keinerlei internationale Veröffentlichung vorzuweisen. Kritische Dozenten, die 2016 eine Friedenspetition unterschrieben hatten, wurden reihenweise entlassen – nur an der Bogazici bisher noch nicht. Mit dem neuen Rektor könnte sich das ändern.
Studierende lassen sich nicht einschüchtern
Den Protesten haben sich mittlerweile Unis im ganzen Land angeschlossen. Vielerorts wurden sie verboten – vorgeblich wegen der Corona-Pandemie. Ankara bezeichnet die Demonstranten als Terroristen. Studentin Ebru Batur lässt sich davon nicht einschüchtern:
"Den Zwangsverwaltungs-Rektor werden alle Studierenden zu spüren bekommen, aber zuallererst benachteiligte Gruppen wie LGBT-Menschen oder Frauen. Schon wurden etwa türkische Studentenwohnheime nach Geschlecht getrennt, sogar die Wohnheim-Kantinen. Als türkische Frauen beugen wir uns im Jahr 2021 nicht solcher Rückschrittlichkeit! Wir wollen modern leben!"
Universitäten, das weiß Ankara nur zu gut, sind Orte kritischen, oppositionellen Denkens. Die Bogazici gilt als Zentrum der feministischen und der LGBT-Bewegung in der Türkei. Nun wird sie vielleicht noch zum Ausgangspunkt einer neuen Studentenbewegung.