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Proteste der Gelbwesten-Anhänger
Revolution gegen das System

Die Proteste der Gelbwesten gegen die Reformpolitik von Emmanuel Macron haben Frankreich verändert. Sie haben dem Land gezeigt, wie groß die Entfremdung zwischen Präsident und Bevölkerung inzwischen ist. Wie viele sich von der Regierung in Paris und von Europa allein gelassen fühlen.

Von Tonia Koch |
Demonstranten marschieren mit Plakaten mit der Aufschrift "RIC" (Citizens Initiated Referendum), während einer regierungsfeindlichen Demonstration der Bewegung "Gelbe Weste"
Die Gelbwesten-Anhänger verlangen mehr Teilhabe (AFP / Patrick Hertzog)
Macron démission, Macron, verschwinde aus dem Amt, schallt es dem amtierenden französischen Präsidenten im fernen Paris aus tausenden Kehlen entgegen. Und das seit Wochen, jeden Samstag.
"Seit dem 17. November bin ich dabei, seit dem ersten Tag."
Claude, ein gemütlich aussehender Mitfünfziger ist in Benfeld in der Nähe von Colmar zu Hause. Er ist wie Raimond, ein "Gilets Jaunes", ein Gelbwestenanhänger der ersten Stunde. Gut 100 Kilometer hat Raimond mit seinem plakatierten Kleinlastwagen zurückgelegt, kein Weg ist ihm zu weit, um dabei zu sein.
"Nicht nur nach Straßburg, nach Paris, nach Epinal, nach Reims, nach überall, seit dem 17 November."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Europa, Straßburg, Paris - Phänomen Entfremdung.
Was treibt die Menschen zum anhaltenden Protest? Sie strömen aus den ländlichen Regionen in die französischen Metropolen. Die Lust am Krawall kann es nicht sein. Dafür stehen weder Raimond noch Claude und auch nicht seine Frau Martine. Seit über 18 Jahren arbeitet sie auf der anderen Seite des Rheins, in Deutschland.
"Die Leute möchten nicht mehr, nur dass es reicht zum Leben. Als Notre-Dame de Paris gebrannt hat, war innerhalb eines Tages eine Milliarde auf dem Tisch von den reichen Leuten. Warum geben sie es nicht den Armen? Da wird nix gemacht, dafür sind wir alle auf der Straße."
Eine Frage des Systems
Die Revoluzzer, die sich auf der Place de l‘Étoile in Straßburg treffen, verlangen nach gleichen Lebensverhältnissen, nach der gerechten Verteilung des Reichtums, nach mehr sozialer Solidarität. Die Leute begehrten auf, weil sie nicht länger von oben herab behandelt werden wollten, fasst es Jean-Jacques zusammen.
"Ich glaube, dass sich dieses Hierarchie-Modell bereits seit Jahrzehnten überlebt hat und jetzt haben wir eine Art offener Revolution gegen dieses System."
Auch Raimond, der Mann aus dem deutsch-französischen Grenzgebiet bei St. Avold stellt die Systemfrage.
"Oui, oui, oui, das System, das geht nicht mehr, die Leute sollen etwas zu sagen haben, die große Leute da, die können nicht mehr für alle sagen, wir machen so oder so, wenn es uns nicht gefällt, dann soll es nicht mehr so gemacht werden. Fertig."
Anhänger der Gelbwesten fordern mehr Teilhabe
Und Damiens, ein junger Familienvater, der mit der Familie ins nahe Freiburg gezogen ist, ergänzt.
"Die gelben Westen, es könnte nur in Frankreich passieren, irgendwo anders gibt es ein echtes demokratisches System, einen Dialog, hier ist es kein Dialog sondern ein Monolog."
Mehr Teilhabe lautet ihr Credo. Sie tragen gelbe Westen, aber sie seien doch trotzdem gute Franzosen. Spontan wird auf der Place de l’Étoile in Straßburg die Nationalhymne, die Marseillaise, angestimmt.
Eine knappe Stunde dauert es, bis sich der Platz füllt. Dann setzt sich die Menge in Bewegung. Nach Angaben der Polizei sind es etwa 2.000 Menschen. Darunter ist auch Simone, eine Rentnerin. Wie so viele reckt Sie ein Plakat mit der Aufschrift RIC in die Höhe.
"Das heißt im Grunde alle Macht den Bürgern, wir müssen da was ändern in der Verfassung, dass Volksabstimmungen möglich werden."
Darauf angesprochen, dass Emmanuel Macron ein paar Tage zuvor doch Vorschläge genau in diese Richtung gemacht hat, dass er mehr direkte Demokratie zulassen und auch die Rentner entlasten möchte, reagiert Simone mit einem Kopfschütteln.
Anhänger der "Gelbwesten"-Bewegung demonstrieren in Straßburg
Vor der Europawahl ist klar: wählen ja, aber gegen Macron (Deutschlandradio / Tonia Koch)
"Nix als Wind, er macht nur Wind, er hat doch gar nichts Konkretes beigesteuert und schon gar nichts für die Leute mit kleinen Einkommen, für die, die arbeiten und nicht viel haben."
Die Polizei hat die Innenstadt hermetisch abgeriegelt, auf den schmalen Brücken, die vom Quai des Pêcheurs zum Straßburger Münster führen, versperren jeweils Gruppen von zehn bis 15 schwer bewaffnete Polizisten die Zugänge. Die Demonstranten fordern die Vertreter der Staatmacht auf, sich zu solidarisieren.
Der bis dahin ruhig verlaufende Demonstrationszug nähert sich nach anderthalb Stunden dem Europaparlament.
"Europa heißt für uns, dass Europa zuerst kommt und dann erst die Franzosen. Die Leute wollen Europa nicht mehr, weil es ist nicht in unserem Interesse, es verstärkt die Probleme die wir haben, wie die Arbeitslosigkeit zum Beispiel."
Macron - vom Hoffnungsträger zur Hassfigur
Die Polizei hat den Zugang zu den europäischen Institutionen blockiert. Ein Hubschrauber kreist über der Menge. Rauchbomben werden gezündet, die Polizei setzt Tränengas ein. Viele Demonstranten haben Gasmasken zur Hand oder sind mit Schwimmbrillen und Mundschutz ausgestattet. Die, die nicht darauf vorbereitet sind, ziehen Schals über Mund und Nase, denn das Atmen fällt schwer.
Sie rennen los, versuchen, der beißenden Gaswolke zu entkommen. In ihren Augen demonstriert die Staatsmacht wieder einmal ihre Macht. Und im Zentrum: Emmanuel Macron. Der französische Hoffnungsträger ist für viele zur Hassfigur geworden und wenn es nach den "Ggilets Jaunes geht, soll die Europawahl zur Abrechnung werden mit ihrem Präsidenten.
"Jeder muss unbedingt wählen gehen, aber nicht für den Macron. Ich wähle gegen Macron egal wen, aber gegen Macron, weil das ist ein junger Lügner und ein Bandit."
Am Ende des friedlich gestarteten Tages vermeldet die Präfektur schließlich Festnahmen und Verletzte in Straßburg.