Archiv

Proteste gegen Regierungskoalition
"Das Schlimmste, was Estland seit der Unabhängigkeit passiert ist"

Seit die rechtskonservative Partei Ekre mit am estnischen Kabinettstisch sitzt, demonstrieren jede Woche Menschen in Tallinn gegen die Regierung. Mancher spricht von einer Koalition mit Nazis. Aber die Front der Demonstranten bröckelt.

Von Frederik Rother |
Protestierende gegen die rechts-konservativ-liberale Regierungskoalition in Tallinn
Etwas ist faul im Staate Estland, finden diese Demonstranten in Tallinn (Deutschlandradio / Frederik Rother)
Jeden Donnerstag ist Demo-Tag. Pünktlich um 11.30 Uhr haben sich elf Menschen versammelt, hier in der historischen Altstadt von Tallinn, vor dem Sitz der estnischen Regierung.
Gegen diese protestieren sie. Während die bunt gemischte Truppe ihre selbst gebastelten Pappschilder mit den Parolen auspackt, wird klar, dass es eine ruhige Veranstaltung wird.
Im Sommer wären sie noch lauter zu hören gewesen, erzählen zwei der Frauen. Sie hätten gerufen und skandiert. "Jüri, tritt zurück!" "Schande!" Jetzt komme es immer ein wenig darauf an, wie frustrierend die politische Woche verlaufen sei.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Estland – Die Wende nach der Wende".
Der Unmut über die Regierung ist so groß, dass diese Esten und Estinnen seit Mitte März regelmäßig protestieren. Damals hatte Noch-Premierminister Jüri Ratas beschlossen, mit der rechtskonservativen Ekre-Partei Koalitionsverhandlungen aufzunehmen – entgegen früherer Versprechen. Wenig später stand die neue Regierung – mit Ekre, einer weiteren konservativen Partei und Ratas als Premier.
"Ich möchte nicht in Ungarn oder Polen leben"
Das hat Estland in Aufruhr versetzt. Und auch den 34 Jahre alten Siim Tuisk mobilisiert:
"Auf meinem Schild steht, dass ich nicht in Ungarn oder Polen leben möchte. Ich möchte in Estland leben."
Siim Tuisk hat Sorge, dass man auch in Estland – dem digitalen Vorzeigestaat – bald über weniger Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz oder politische Willkür diskutiert. Der Versuch des Ekre-Innenministers, über seine Kompetenzen hinweg, den Polizeichef zu feuern, nähre solche Befürchtungen.
Deswegen ist Siim Tuisk seit fünf Monaten dabei – jeden Donnerstag:
"Wenn wir mal nicht kommen, könnte die Regierung das für sich nutzen und sagen, dass sie von den meisten Menschen akzeptiert wird. Das heißt, wir müssen weitermachen, auch wenn es so aussieht, dass die Proteste erst mal keine direkten Auswirkungen haben. Es geht vor allem um die Moral, und manche Minister kriegt man damit auch mal."
Manchmal bleiben Minister stehen und diskutieren
Die müssen nämlich, wenn sie hier in der Altstadt Richtung Regierungssitz laufen, an dem Spalier vorbei, das die Demonstranten mit ihren Pappschildern gebildet haben. Manchmal werden die Politiker wütend oder fangen eine Diskussion an, erzählt Siim Tuisk.
Dann muss er sich um seinen kleinen Sohn kümmern, der in der Menge hin und herläuft. Den bringt er meistens mit zur Demo.
Vor dem Stenbock-Haus, wie der Regierungssitz aus dem 18. Jahrhundert genannt wird, ist Einiges los. Journalisten laufen vorbei. Immer wieder werden Minister hergefahren oder abgeholt, jeden Donnerstag ist Kabinettssitzung. Die meisten werden begrüßt, man kennt sich schon. Finanzminister Martin Helme ist eben in seinen Dienstwagen gestiegen, die Demonstranten hat er keines Blickes gewürdigt. Helme ist Sohn des Ekre-Parteichefs und einer der umstrittensten Regierungspolitiker.
"Sie sind gegen Minderheiten, gegen Migranten, sie loben Hitler"
Der 47 Jahre alte Jonas hält eine der wenigen englischsprachigen Parolen hoch, ein britisches Propagandalied aus dem Zweiten Weltkrieg – Titel: "Hitler hat nur ein Ei".
Jonas meint: Man brauche keine Eier, keinen Mut, um Nazi zu sein.
"Sie sind gegen Minderheiten, gegen Migranten, sie loben Hitler – das passiert alles, und es braucht nicht viel, um festzustellen, ob das Nazis sind oder nicht. Sie bestreiten das natürlich, aber es gibt einen Europaparlamentarier von Ekre, der im Sommer von der - Zitat: - 'Endlösung' sprach."
Transparente gegen die rechts-konservativ-liberale Koalition in Tallinn
Transparente gegen die Regierungskoalition in Tallinn (Deutschlandradio / Frederik Rother)
Nicht ganz: Jaak Madison, der Ekre-Politiker, hatte auf Facebook von der "endgültigen Lösung" gesprochen, mit der man syrischen Flüchtlingen begegnen müsse, die in Europa das Gesetze brechen. Mit Nazi-Ideologie habe das nichts zu tun, beschwichtigte der Politiker, als er für die Formulierung in die Kritik geriet.
Für Jonas ist die Sache trotzdem klar:
"Diese Regierung ist das Schlimmste, was Estland seit der Unabhängigkeit passiert ist."
Front der Demonstranten bröckelt
18 Prozent Ekre-Wähler sehen das wohl anders. Und auch die Front der Demonstranten gegen die rechtskonservative Regierungsbeteiligung bröckelt.
Im Frühjahr waren sie teilweise mehrere Hundert Demonstranten, mehrere Initiativen mobilisierten. Inzwischen kommen nur noch wenige. Den Winter durchzuhalten, wird schwierig, meint eine der Organisatorinnen. Maja Lisa gehört zu denen, die weitermachen wollen: "Jüri, ist es dir immer noch nicht peinlich?", steht auf ihrem Protest-Schild.
Die 38-Jährige ist fast von Anfang an dabei. Sie meint: die negative Politik der Regierung sei bereits spürbar:
"Das Problem ist, dass wir ein kleines Land sind. Wenn man zum Beispiel im öffentlichen Dienst arbeitet, kann man nicht einfach gehen und sich einen anderen Job suchen. Ich glaube, es ist, wie Timothy Snyder sagt: Die Menschen verbiegen sich im Vorfeld, um ihre Jobs oder was auch immer zu behalten. Es geht hier um Selbstzensur."
"Als Esten protestieren wir eigentlich nicht, das ist komisch"
Sichtbar sei das etwa beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Von 40 Protesttagen wären die Journalisten nur ein paar Mal dagewesen, einmal hätten sie sogar mit alten Bildern suggeriert, dass es keine Demonstration gab.
Zeigt ihr Auftreten Wirkung? Maja Lisa meint: Ja! Sie erzählt, dass sich der Chefredakteur der größten Tageszeitung – der auch Cousin des Ekre-Finanzministers ist – erst durch den Druck der Demonstranten öffentlich als Ekre-Unterstützer geoutet habe. Der Journalist wurde inzwischen von seiner Redaktion zum Rücktritt gezwungen.
Die Demo endet so schnell, wie sie anfing. Nach einer Stunde Reden und Warten in der November-Kälte packt die Gruppe ihre Protest-Schilder wieder ein. Aus einer der Taschen lugt noch die Pappe mit der Hitler-Parodie.
Nächste Woche, sagt Maja Lisa, kommt sie wieder.
"Als Esten protestieren wir eigentlich nicht, das ist komisch, das machen wir nicht. Aber ich merke, dass ich was tun muss. Ich wüsste nicht, was einen größeren Effekt hätte als die Proteste."