Christiane Kaess: Etliche Schulen geschlossen und Chaos im Bus- und Bahnverkehr. In Frankreich legte gestern der sechste Streiktag das öffentliche Leben weitestgehend lahm. Die Gewerkschaften hatten Bahnmitarbeiter, Ärzte, Lehrer und andere Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes dazu aufgerufen, den Plänen zur Rentenreform der französischen Regierung und des Präsidenten Emmanuel Macron die Stirn zu bieten.
Macron hat seine Landsleute selbst mal als "widerspenstige Gallier" bezeichnet, die sich gegen jede Veränderung wehren. Was genau mit der Rentenreform auf die Franzosen zukommen soll, stellt die Regierung heute in Paris vor. Ich kann darüber jetzt sprechen mit Professor Henrik Uterwedde vom Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg. Guten Morgen!
"Macron ist in den letzten Jahren sein autoritärer Stil vorgeworfen worden"
Henrik Uterwedde: Guten Morgen!
Kaess: Herr Uterwedde, wir haben gerade gehört, die Details der Reform werden überhaupt erst heute bekannt. Warum schlägt das Ganze dennoch schon vorab so hohe Wellen?
Uterwedde: Na ja. Zum einen haben wir es hier mit einer sehr klassischen Mobilisierung in Frankreich zu tun, vor allen Dingen der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, und das hat es ja schon gerade bei sensiblen Themen wie Arbeitsmarkt oder Rentenversicherung immer gegeben. Wenn Sie solche Reformen machen wollen, in Frankreich oder anderswo, Sie können es eigentlich immer nur falsch machen.
Macron ist in den letzten Jahren sein autoritärer Stil vorgeworfen worden und auch teilweise um die Ohren geflogen mit den Gelbwesten, arroganter Stil, keine Reformbündnisse, zu wenig Gesprächsbereitschaft. Diesmal hat er monatelang eigentlich die Verbände konsultiert, die Sozialpartner, aber um auch noch Spielraum zu haben für mögliche Veränderungen oder Konzessionen, hat er bislang die Eckpunkte nicht wirklich festgemacht.
Das wird ihm jetzt wiederum vorgeworfen und manche sagen, er hat ein Klima der Angst geschaffen, viele Leute haben Angst, dass diese Reformen ihnen am Ende weniger bescheren werden, ihnen Einbußen bescheren werden. Deswegen ist es, glaube ich, sehr wichtig, dass heute die Regierung ganz klar sagt, was Sache ist, so dass dann auch konkreter diskutiert werden kann.
"Macron ist es sich selber schuldig"
Kaess: Was wissen Sie denn über die Pläne der Rentenreform, die heute vorgestellt werden sollen?
Uterwedde: Nicht viel. Ich denke mal, A: Macron ist es sich selber schuldig. Er ist gewählt worden, um Frankreich zu verändern. Er wird an dieser Reform festhalten. Er wird vor allen Dingen an dieser universellen Reform, der Abschaffung der Spezial-Sondersysteme festhalten. Ich denke mal, dass er Konzessionen machen kann bei der Umsetzung der Reformen, zum Beispiel wie werden die Übergänge gestaltet, ab wann gilt diese Reform erst.
Da sind im Raume Diskussionen, dass man die Umsetzung etwas länger hinausschiebt, so dass viele der heute Arbeitenden gar nicht wirklich betroffen sind. Oder aber wie kann man Ausgleich schaffen für diejenigen in den heutigen Sonderregimen – es gibt Einzelfälle, wo dann tatsächlich Berufsgruppen schlechter gestellt würden -, wie kann man hier dafür sorgen, dass niemand wirklich Verlierer dieser Reform sein wird. Das sind Punkte, wo er Konzessionen machen kann, ohne das Gesicht zu verlieren.
Kaess: Das würde bedeuten, dass die Sorge, die jetzt so viele Menschen auf die Straße treibt, dass es für alle sinkende Renten geben wird und ein höheres Renteneintrittsalter, überzogen wäre?
Uterwedde: Natürlich! Die Sorge ist auch überzogen. Aber er hat durch seine mangelnde Präzision diese Ängste geschürt, und diese Ängste muss er heute ein bisschen ausweiten. Im Kern geht es nicht darum, dass am Ende alle schlechterstehen, wie es die CGT behauptet.
Kaess: Die Gewerkschaft.
Uterwedde: Die zweitgrößte Gewerkschaft, die doch an der Spitze der Proteste steht. Interessant ist, dass die größte Gewerkschaft, die CFDT, reformbereit ist und im Prinzip auch diesen Übergang zu einem Universalsystem befürwortet. Macron wird auch versuchen müssen, durch geschickte Konzessionen bei der Umsetzung diese Gewerkschaft fernzuhalten von der Protestfront. Dann hätte er die Protestfront gespalten.
Das hat er schon mal geschafft, 2017 und 2018, und dann hat er eine Chance. Letztendlich geht es darum: Wer gewinnt den Kampf um die öffentliche Meinung. Das ist immer ein Kräftemessen zwischen der Mobilisierung einerseits und der Regierung, die sagen muss, warum diese Reform notwendig ist, warum sie den Franzosen nützt und ihnen nicht schadet.
Um diesen Kampf geht es letztendlich auch heute bei den Ankündigungen, und dann wird der Präsident versuchen, in die Offensive zu gehen, die Gegner auch, und je nach Ausgang wird dann die Regierung da als Sieger vom Platz gehen oder auch nicht.
"Macron ist nicht der Präsident, der vor der Mobilisierung der Straße zurückweicht"
Kaess: Da ist eine Menge Überzeugungsarbeit zu leisten, wenn ich Sie richtig verstehe?
Uterwedde: Ja.
Kaess: Das ist ja nicht das erste Mal, dass eine Regierung in Frankreich probiert, das Rentensystem zu reformieren, und das ist immer gescheitert an diesen massiven Protesten. Was ist dieses Mal eventuell anders?
Uterwedde: Na ja. Zum letzten Mal gescheitert ist es 1995. Das ist ja ein Wort, was in aller Munde ist, wo tatsächlich die damalige Regierung auf der ganzen Linie scheiterte und alles zurücknehmen musste. Heute ist es doch etwas anders. Wir haben einen Präsidenten, der anders als seine Vorgänger ein entschlossener Reformer ist, der auch weniger bereit ist als Vorgänger, vor dieser Mobilisierung der Gewerkschaften zurückzuweichen.
Seine politische DNA ist, geradezu der Reformpräsident zu sein, und das macht er anders als seine Vorgänger sehr entschlossen. Normalerweise ist er auch in der Lage, das sehr offensiv und politisch in der Öffentlichkeit zu vertreten. Da wartet man noch mal ein bisschen auf ihn. Aber ich denke, die Entschlossenheit ist da, und insofern rechne ich auch damit, dass er die Reform vielleicht mit ein paar Federn, die er lassen muss, tatsächlich durchhalten wird. Macron ist nicht der Präsident, der wie 1995 zurückweicht vor der Mobilisierung der Straße.
"Bei den Gelbwesten handelte es sich ja um eine sehr spontane Bewegung"
Kaess: Auf der anderen Seite haben wir jetzt bei diesen Protesten auch schon ganz viel Unmut über Macron an sich gesehen und festgestellt. Denken Sie, die Proteste der kommenden Tage und Wochen könnten vergleichbar werden mit der Gelbwesten-Bewegung?
Uterwedde: Nein, das glaube ich nicht. Das sind im Grunde ja zwei unterschiedliche Arten der Bewegung. Wenn ich vorhin sagte, es ist eine klassische Mobilisierung; hier haben wir die Gewerkschaften, vor allen Dingen Linksparteien und alle, die sich darum herumscharen. Das ist eine relativ strukturierte Bewegung. Die hat auch eine klare politische Aussage und eine Forderung.
Bei den Gelbwesten handelte es sich ja um eine sehr spontane Bewegung, die gar nicht richtig fassbar war, mit der die Regierung auch gar nicht richtig verhandeln konnte, weil sie sich weigerten, überhaupt konkrete Forderungen aufzustellen oder Vertreter zu benennen, die mit der Regierung verhandeln. Das ist hier dann schon anders. Das ist überschaubarer für die Regierung, berechenbarer, welche Konzessionen muss ich machen, um zum Beispiel die größte Gewerkschaft CFDT von der Streikfront fernzuhalten und so weiter. Ich denke, dass das für die Regierung "einfacher" zu händeln ist als die Krise der Gelbwesten, die alle überrascht hat.
Kaess: Und das heißt auch, Sie schätzen das Durchhaltevermögen der Streikenden gar nicht so hoch ein? Das Ganze könnte relativ schnell abflauen?
Uterwedde: Das glaube ich jetzt wiederum nicht. Die Franzosen sind da schon sehr, sehr streikfreudig. Aber ich denke, irgendwann kommt der Punkt, wenn klar ist, dass die Regierung hier einen klaren Plan hat, dass sie auch nicht weichen wird, dann kann es schon sein, dass irgendwann die Streikfront beginnen wird zu bröckeln.
Das hat man 2018 zum Beispiel bei der Bahnreform gesehen, trotz wochenlanger und monatelanger Streiks. Dann wird es aufhören. Das wird nicht abrupt beginnen, aber irgendwie, wenn Macron Erfolg hat, wird es dann langsam auslaufen. Solche Reformen sind in Frankreich, wie übrigens auch anderswo, immer mit großen sozialen Flurschäden in Form von Protesten und Demonstrationen verbunden. Das ist gar nicht anders möglich. Es wird noch einige Wochen heiß hergehen in Frankreich, denke ich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.