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Proteste im Gaza-Streifen
Kalkül und Verzweiflung

Im Gaza-Streifen demonstrieren seit Tagen hunderte Palästinenser. Das sogenannte Rückkehrrecht in Gebiete, aus denen vor 70 Jahren Palästinenser geflohen waren, ist nur einer der Gründe. Die aktuellen Proteste richten sich auch gegen die schlechten Lebensbedingungen und die Perspektivlosigkeit.

Von Tim Aßmann |
    Junge Männer protestieren im Gaza-Streifen
    Ein überdimensionaler Schlüssel in den Landesfarben Palästinas als Symbol für das Rückkehrrecht (Deutschlandradio / Aßmann)
    Ein junger Mann, mit einem Palästinensertuch steht in der Mitte und singt, um ihn herum stehen rund 50 Frauen und Männer Anfang 20 und stimmen ein. Sie haben einen großen Schlüssel aus Pappe mit in eines der Protest-Zeltlager nahe der Grenze zu Israel gebracht. Der Schlüssel soll ihren Anspruch auf die Heimat ihrer Eltern und Großeltern unterstreichen. Rund 700.000 Palästinenser flohen oder wurden vertrieben - nach der israelischen Staatsgründung 1948 und dem Krieg, der auf den Angriff der arabischen Nachbarstaaten folgte.
    Das sogenannte Rückkehrrecht palästinensischer Flüchtlinge und ihrer Nachkommen ins heutige israelische Staatsgebiet ist der offizielle Anlass für die aktuellen Massenproteste - aber demonstrieren die Menschen wirklich deswegen in großer Zahl an der Grenze zu Israel? Nein, sagt Mechemar Abusada, Politologe an der Al Azhar-Universität in Gaza.
    "Ob es uns gefällt oder nicht - wir wissen das Rückkehrrecht ist eher ein Slogan, als ein realistisches Ziel. Die Proteste richten sich gegen die Lebensbedingungen und die israelische Blockade des Gaza-Streifens."
    Weiße Zelte auf Sandboden unter Stromkabeln
    Blick auf ein Protestcamp im Gazastreifen (Deutschlandradio / Aßmann)
    Perspektivlosigkeit als Nährboden der Proteste
    Seit fast elf Jahren ist der Küstenstreifen nun von Israel und Ägypten weitgehend abgeriegelt. Die Arbeitslosigkeit insgesamt liegt bei 40, die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei über 60 Prozent. Die staatlichen Angestellten bekommen häufig nur die Hälfte ihrer Gehälter und auch das teils mit monatelanger Verspätung. Die Wirtschaft liegt am Boden. Größter nichtstaatlicher Arbeitgeber sind die Vereinten Nationen, die Gesundheitszentren und viele Schulen betreiben. 1,3 der 2 Millionen Bewohner des Gaza-Streifens sind von Lebensmittelhilfe abhängig. Das Wasser in dem abgeriegelten Küstengebiet ist ungenießbar, Strom gibt es nur wenige Stunden am Tag.
    Das sind die Zahlen zur Perspektivlosigkeit einer Bevölkerung, die zur Hälfte 18 Jahre und jünger ist. Das ist der Nährboden der Proteste - die auch dieser Passant in Gaza-Stadt richtig findet.
    "Wir sind im Recht. Wir wurden vertrieben und müssen für unser Rückkehrrecht friedlich demonstrieren können. Ich bin dagegen die Grenze zu stürmen aber ich finde friedliche Proteste richtig. Damit die Welt auf unsere Probleme aufmerksam wird. Wir haben im Gegensatz zu Israel keine Waffen. Unser Protest ist friedlich."
    So sehen es viele in Gaza. Auch wenn die Bilder von Steinwürfen und Molotowcocktails das Gegenteil zeigen.
    "Ein Krieg der Bilder"
    Die ursprüngliche Idee zu den Massenprotesten kam von einer Gruppe junger Palästinenser, von Internetaktivisten ohne Bindung zu den etablierten politischen Lagern. Die Hamas, die den Gaza-Streifen kontrolliert, sprang vor Beginn der Demonstrationen auf, mobilisierte ihre Anhänger und hat die Proteste mittlerweile in der Wahrnehmung vereinnahmt. Ahmed Youssef, ist ehemaliger Berater von Hamas-Chef Haniye, und gilt als Mitglied des moderaten Flügels der Bewegung.
    "Es ist ein Krieg der Bilder. Ich habe jetzt Kriege mit den Israelis erlebt, drei davon in den letzten zehn Jahren. Sie verliefen blutig für die Palästinenser und hatten einen hohen Preis. Nun versuchen wir diesen gewaltfreien Ansatz und ich denke, es kann funktionieren."
    Hamas als politische Gewinner
    Die Hamas weiß, dass Israel wegen der Schüsse auf die Demonstranten international unter Druck gerät. Vor allem aber profitiert Hamas innenpolitisch. Vor den Protesten hatte die Bewegung im Gaza-Streifen an Rückhalt verloren. Das ändere sich nun, sagt Politologe Abusada.
    "Die Palästinenser kritisieren die Hamas nicht mehr dafür, dass sie nichts tun würde oder dass die Lebensbedingungen so schlecht sind. Die Aufmerksamkeit liegt jetzt auf der israelischen Abriegelung und auf der unverhältnismäßigen Anwendung von Gewalt durch die Israelis gegen die palästinensischen Zivilisten die demonstrieren."
    Die Hamas ist bisher der politische Gewinner der Entwicklungen und deshalb hat sie momentan auch ein großes Interesse daran, dass die Massenproteste weiter gehen.