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Proteste in Algerien
"Das Mindeste ist, dass Bouteflika verschwinden muss"

In Algerien breite sich zurzeit im ganzen Land ziviler Ungehorsam aus, sagte Isabelle Werenfels von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Dlf. Wahlen sind nach ihrer Einschätzung so nicht möglich. Die Hoffnung vieler sei, dass Präsident Abdelaziz Bouteflika für nicht handlungsfähig erklärt werde.

Isabelle Werenfels im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker |
Protest in Algerien
Auch Anwälte protestieren in Algerien gegen den amtierenden Präsidenten. (picture alliance/Millemo Ppn/MAXPPP)
Ann-Kathrin Büüsker: In Algerien haben Gegner von Präsident Bouteflika heute erneut zu Protesten aufgerufen. Bouteflika hatte sich gestern in einer Botschaft geäußert und gewarnt, dass die friedlichen Proteste unterwandert werden könnten. Das Thema wollen wir jetzt vertiefen hier im Deutschlandfunk mit Isabelle Werenfels von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Sie ist dort Teil der Forschungsgruppe Naher und Mittlerer Osten sowie Afrika und hat einen Schwerpunkt mit Blick auf die Maghreb-Staaten. Einen schönen guten Morgen, Frau Werenfels.
Isabelle Werenfels: Guten Morgen, Frau Büüsker.
Büüsker: Vielleicht schauen wir gemeinsam zunächst noch mal auf die Person Bouteflika. Wie ist das überhaupt möglich, dass er in seinem gesundheitlichen Zustand noch im Amt ist?
Werenfels: Bouteflika war sehr lange sehr beliebt. Das muss man sehen. Er galt als derjenige, der dem Land wieder Stabilität und Sicherheit gebracht hat. Er ist eine Figur des Unabhängigkeitskrieges gewesen. Er hatte das, was man in Algerien revolutionäre Legitimität nannte, war schon sehr jung Außenminister in den 60er-Jahren. Das war schon eine Figur, auch eine charismatische, sehr lange. Und dann muss man sagen, dass wir nicht wissen, wie frei und fair die letzten Wahlen waren und auch die vorletzten. Da war eine Kombination einer Figur, die eine gewisse Beliebtheit hatte, und gleichzeitig hatten wir nie freie und faire Wahlen, so dass wir nicht wirklich einschätzen konnten, wie beliebt er denn wirklich war.
Ein Präsident als Provokation
Büüsker: Warum entzündet sich jetzt so viel Widerstand gegen ihn?
Werenfels: Zum einen hat das damit zu tun, dass es einfach als eine Zumutung, eine Provokation empfunden wird, dass ein Präsident, der überhaupt nicht mehr sichtbar ist in der Öffentlichkeit, der auch nicht mehr reden kann nach allem, was wir wissen, nur noch unverständlich murmeln, dass diese Person noch mal kandidieren will. Und dann kommt dazu, dass jetzt eine Generation erwachsen geworden ist, die den Bürgerkrieg nicht mehr aktiv miterlebt hat, und da sind die Ängste nicht komplett verschwunden. Das sehen wir auch daran, was Herr Ehlert berichtet hat, dass es immer heißt "friedlich, friedlich" bei diesen Demonstrationen. Aber die Ängste sind so weit zurückgegangen, dass die Leute sich wieder auf die Straße wagen.
Büüsker: Der Generationswechsel macht es quasi möglich, dass sich jetzt etwas verändert?
Werenfels: Ich würde sagen, das ist ein ganz wichtiger Faktor. Ein wichtiger Faktor ist sicherlich auch, dass es ökonomisch etwas schlechter geht, die Kaufkraft abgenommen hat. Algerien ist in höchstem Maße vom Erdöl abhängig. Um die 95 Prozent der Exporteinnahmen kommen aus diesem Sektor und da wird sehr viel Geld über Subventionen und so weiter verteilt. Und da der Preis gesunken ist, mussten jetzt die Algerier noch nicht dramatisch, aber doch den Gürtel etwas enger schnallen. Das spielt auch eine Rolle.
"Das Gefühl, dass man kein Mitspracherecht hat"
Büüsker: Es geht den Menschen eigentlich noch gut, aber es entzündet sich schon ein bisschen der Wunsch, dass sich etwas verändert?
Werenfels: Ja, absolut! Und es ist natürlich die ganze Korruption. Das haben wir alles gehört in diesem Beitrag. Das Gefühl, dass man kein Mitspracherecht hat, das ist sicherlich die Hauptforderung, und ich glaube, es wäre auch falsch zu denken, dass es hier nur noch um Bouteflika geht. Das haben wir auch gehört. Man muss unterscheiden zwischen denjenigen, denen es um Bouteflika geht, denjenigen, denen es um das Regime insgesamt, das ganze Personal der Elite geht, und denjenigen, denen es um Systemwandel geht. Im Moment ist es ganz schwierig abzuschätzen, wie groß die dritte Gruppe ist, weil das ist wirklich eine fundamentale Geschichte, wenn das ganze System neu aufgebaut werden soll. Es ist oft die Rede von einer Zweiten Republik. Die erste wurde nach der Unabhängigkeit, nach dem Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich gegründet. Die ist hauptsächlich autoritär gewesen. Es gab einen Bürgerkrieg. Und jetzt ist immer mehr die Rede von der Gründung einer Zweiten Republik, von einem Neustart.
"Die Opposition ist extrem zersplittert"
Büüsker: Sie sagen jetzt, das lässt sich derzeit noch nicht so richtig abschätzen, wie wahrscheinlich das ist, dass es kippt. Aber gehen wir mal davon aus, dass es kippen könnte. Sehen Sie da irgendwen, der als Person oder vielleicht auch als Partei auf Bouteflika folgen könnte? Wie könnte diese neue Republik aussehen?
Werenfels: Die Frage ist natürlich auch, was Kippen bedeutet. Bedeutet Kippen Eskalation, oder bedeutet es, dass man jetzt eine konstituierende Versammlung haben wird, eine Regierung der nationalen Einheit? Wenn wir jetzt in die Richtung denken, dann ist es ganz schwierig, bei den traditionellen Oppositionsfiguren zu schauen, weil die haben kaum Mobilisierungspotenzial. Es waren auch nicht sie, die mobilisiert haben. Sie sind sehr zersplittert. In diesen Tagen gibt es riesige Diskussionen, inwieweit die Personen der Islamistischen Partei, die 1991 die Wahlen gewonnen hatten, der FIS-Partei, inwieweit die überhaupt die Legitimität haben, auch mitzumarschieren, auch mitzureden. Die Opposition ist extrem zersplittert und die Vorstellungen, wie tief Reformen gehen, gehen auseinander.
Es gibt aber in der Zivilgesellschaft eine Reihe von Figuren, die sich langsam herauskristallisieren. Aber letztlich ist es bislang ein führungsloser Protest. Es ist wirklich ein ziviler Ungehorsam, der sich übers ganze Land ausbreitet, und ein Protest, und wir wissen nicht, wer da am Ende hochgespült wird.
"Niemand hat Interesse an einer Eskalation"
Büüsker: Wenn keine Führungsfiguren da sind, macht es so eine Bewegung ja auch umso schwieriger, sie einzuschätzen. – Sie haben eben das Stichwort Eskalation schon gebracht. Für wie wahrscheinlich halten Sie es zum derzeitigen Zeitpunkt, dass eine Eskalation vielleicht auch möglich wäre?
Werenfels: Ich glaube, niemand hat Interesse an einer Eskalation. Ich würde behaupten, nicht einmal das Bouteflika-Lager. Die Aussagen des Armeechefs würde ich so deuten, dass er versucht, Ängste so zu instrumentalisieren, dass die Leute von der Straße weggehen, ohne dass in irgendeiner Weise die Sicherheitskräfte eingreifen müssen. Denn die Sicherheitskräfte – das haben wir auch gesehen -, die sind sehr gespalten. Es gab auch anonyme Facebook-Postings von Militärs, von Polizisten, die gesagt haben, wir sind auf Seite der Protestierenden. Ich sehe hier keinen großen Appetit, gegen die Bevölkerung vorzugehen. Das hängt sicherlich auch mit dem kollektiven Gedächtnis des Bürgerkrieges zusammen.
Büüsker: Halten Sie das für realistisch, dass diese Proteste einfach wieder aufhören?
Werenfels: Absolut nicht. – Absolut nicht. – Ich glaube, das Mindeste ist, dass Bouteflika in irgendeiner Weise verschwinden muss, aber ich glaube, dann werden die großen Fragen erst hochkommen, und ich denke, dass wir jetzt eine lange Phase des Aushandelns einer gewissen Unsicherheit sehen, aber ich glaube auch, dass wir – wir, sage ich jetzt mal, das Ausland – nicht nervös werden sollten mit Blick auf Destabilisierung. Weil alle, die gedacht haben, Algerien sei stabil, haben sich etwas vorgemacht. Das war nur ein stagnierender Staat und es handelte sich nicht um Stabilität.
"Da können keine Wahlen durchgeführt werden"
Büüsker: Können denn unter den derzeitigen Voraussetzungen die Wahlen im April überhaupt stattfinden?
Werenfels: Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Ich kann es mir kaum vorstellen. Ich nehme an, da werden Wahllokale so belagert werden von den Protestierenden, dass man nicht wählen gehen kann. Der Druck auf die Kandidaten – das haben wir auch gehört – steigt. Da können keine Wahlen durchgeführt werden, die auch nur ansatzweise eine Legitimität haben. Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Es gibt immer noch die Option, dass der Verfassungsrat Bouteflika für nicht handlungsfähig erklärt. Das ist die große Hoffnung vieler. Dann gäbe es eine Übergangsphase, dann würden Neuwahlen innerhalb von 90 Tagen nach einer 45-tägigen Übergangsphase angeordnet und dann könnte sich alles neu sortieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.