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Proteste in Algerien und Sudan
Orientalist: Das ist kein neuer Arabischer Frühling

Aus Sicht des Orientalisten Günter Meyer deute trotz der Proteste im Sudan und Algerien nichts auf einen neuen Arabischen Frühling hin. Im Gegenteil: Ägypten und Saudi-Arabien setzen alles daran, die autoritären Kräfte in beiden Ländern zu stärken, sagte er im Dlf - und Europa könne dagegen kaum etwas tun.

Günter Meyer im Gespräch mit Stefan Heinlein |
Günter Meyer, Orientexperte an der Universität Mainz
Der Orientalist Günter Meyer glaubt nicht, dass es im Sudan und Algerien zu grundlegenden machtpolitischen Veränderungen kommt (picture alliance / dpa / Erwin Elsner)
Stefan Heinlein: Am Telefon nun Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur arabischen Welt an der Uni in Mainz. Ich grüße Sie, guten Tag!
Günter Meyer: Ich grüße Sie, Herr Heinlein!
Heinlein: Es deutet derzeit wenig hin auf einen echten Regimewechsel in Algerien, so gerade unser Korrespondent. Herr Meyer, teilen Sie diese Einschätzung?
Meyer: Durchaus. Vor allem das gesamte System ist derartig autoritär, das Militär hat nach wie vor die entscheidende Machtposition dort inne. Das heißt, wir können durchaus noch von anhaltenden Protesten ausgehen, aber die Chancen, dass es wirklich zu grundlegenden Veränderungen in Algerien kommt, diese Chancen sind relativ gering. Dazu trägt auch bei, dass eben nur innerhalb einer Übergangsphase von 90 Tagen die nächsten Wahlen ausgeschrieben werden sollen. Und da ist davon auszugehen, das Militär in seiner bisherigen Machtstruktur wird durchaus in der Lage sein, die Wahlen so zu steuern, dass die politischen Verhältnisse kaum grundlegend verändert werden können.
Demontranten an Militärzentrale in der sudanesischen Hauptstadt Khartoum
Nach 30 Jahren Militärdiktatur hoffen die Menschen im Sudan auf eine Zivilregierung (picture-alliance / dpa / AA / Mahmoud Hjaj)
"Beide Länder haben ein Trauma zu verarbeiten"
Heinlein: Blicken wir auf die Protestbewegung in Algerien, aber auch, wie zuvor gehört, im Sudan: Was sind die Ziele der Demonstranten, geht es den Menschen tatsächlich um mehr Freiheit, Demokratie, um mehr Teilhabe an der Macht?
Meyer: Grundsätzlich ist das die Forderung, die gegenwärtig immer wieder geäußert wird. Aber wir haben zwischen beiden Ländern eben doch sehr unterschiedliche Voraussetzungen. Beide Länder haben ein Trauma zu verarbeiten: Das eine Trauma im Sudan bestand vor allem darin, dass 2011 der Südsudan abgespalten ist und damit etwa drei Viertel der gesamten Erdölproduktion dem Lande verloren gegangen ist. Das hat zu so gravierenden wirtschaftlichen Konsequenzen geführt, galoppierende Inflation, 70 Prozent etwa, die wir gegenwärtig haben. Hier steht vor allem im Sudan die wirtschaftliche Situation im Vordergrund angesichts einer im höchsten Maßen korrupten Regierung. Das sind wirtschaftliche Interessen.
Im Unterschied dazu in Algerien, Algerien hat das Trauma des Bürgerkriegs zu verarbeiten von 1991 bis 2002. Und in dem Gefolge ist auch Bouteflika an die Macht gekommen, in dem Gefolge sind hier extrem autoritäre Strukturen entstanden. Und da wird es eben sehr schwierig, anders als im Sudan, wo wirtschaftliche Not wirklich der dominierende Faktor ist, in Algerien geht es um politische Forderungen. Und diese durchzusetzen angesichts einer Machtposition der alten Garde plus Militär im Hintergrund, da sind die Chancen sehr gering, dass sich dort tatsächlich etwas bewegen wird.
"Die Stärkung der autoritären Mächte ist, was als die eigentliche Folge anzusehen ist"
Heinlein: Unterschiede zwischen Sudan und Algerien, unterschiedliche Ausgangslagen. Wenn wir, Herr Meyer, auf die gesamte Region blicken, dafür sind Sie ja zuständig, auf die arabische Welt blicken: Ist der Eindruck ganz falsch, dass man sagt, diese Region ist erneut in Bewegung, in Aufruhr?
Meyer: Das kann man eigentlich nicht sagen. Die eigentliche Aufruhr-Bewegung, das war im Jahre 2011 der Arabische Frühling. Ausgehend von Tunesien mit Regimewechseln, Bouteflika, der das Land verlassen musste, dann überschwappend nach Ägypten, wo Mubarak gestürzt worden ist, Gaddafi in Libyen wurde gestürzt. Im Jemen die Regierung ebenfalls gestürzt, Unruhen, Bürgerkrieg auch in Syrien. Damals war die Region in Bewegung.
Aber die Gegenbewegung, nämlich die Stärkung der autoritären Mächte, das ist, was als die eigentliche Folge anzusehen ist. Die autoritären Mächte haben ihre Positionen nachdrücklich verstärkt, nachdem freie Wahlen etwa in Ägypten durchgeführt worden sind, die Muslimbruderschaft an die Macht gekommen ist, und dann, al-Sisi in einem Putsch die Macht wieder an sich gerissen hat, extrem autoritäre Verhältnisse in Ägypten. Das Gleiche von Anfang an, Saudi-Arabien wurde praktisch nicht tangiert vom Arabischen Frühling. Ganz ähnlich die Situation in den Vereinigten Arabischen Emiraten, auch in den anderen Golfstaaten haben wir hier kaum Auswirkungen des Arabischen Frühlings. Aber als Konsequenz noch autoritärere Herrschaften, die darauf bedacht sind, ihre Macht unter allen Umständen zu erhalten.
Das Foto zeigt Demonstranten und Polizisten in der algerischen Hauptstadt Algier.
Das Foto zeigt Demonstranten und Polizisten in der algerischen Hauptstadt Algier. (AFP)
Ägypten und Saudi-Arabien unterstützen die autoritären Kräfte im Sudan und Algerien
Heinlein: Wie lange, Herr Professor, wie lange wird das denn noch funktionieren, etwa in Ägypten, einem der wichtigsten Länder der Region. Dort herrscht ja, Sie haben es geschildert, eine Art Grabesstille, ein autoritäres Militärregime, das jeden Protest unterdrückt. Wird das noch funktionieren, wenn in einem Nachbarland – und das ist ja der Sudan – die Menschen auf die Straße gehen und einen Regimewechsel fordern?
Meyer: Was wir im Augenblick sehen, ist die massive Unterstützung von Kairo aus ebenso wie von Riad, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate für das Militär in Khartum. Das heißt, hier sieht man durchaus, dass es eine große Gefahr ist, wenn es tatsächlich zu einem sudanesischen Frühling kommen sollte. Und das versuchen die autoritären Herrscher in Ägypten, in Saudi-Arabien, in den Vereinigten Arabischen Emiraten gegenwärtig zu verhindern. Sie stützen die autoritären Strukturen dort.
Und gerade auch angesichts der starken finanziellen Unterstützung, mehr als drei Milliarden US-Dollar von Saudi-Arabien und den Vereinigten Emiraten sind der Übergangsregierung in Khartum zugesichert worden. Hier versucht man einzugreifen und dafür zu sorgen, dass es eben nicht zu einem sudanesischen Frühling kommt, der dann in der Tat auch Rückwirkungen auf die politischen Verhältnisse in den drei genannten autoritären Ländern haben könnte.
Heinlein: Was sind denn die möglichen Folgen, Herr Meyer, wenn die Sehnsucht vieler Menschen, die gibt es ja, vieler Menschen in der arabischen Welt erneut enttäuscht würden? Wird sich dann die Flucht in Richtung noch einmal verstärken, noch einmal an Fahrt aufnehmen?
Meyer: Das ist aus der arabischen Welt eher unwahrscheinlich, zumal die Grenzen Europas weitgehend versperrt sind. Also, die Hoffnung, dass man jetzt in Europa Fuß fassen könnte, diese Hoffnung ist gerade in der arabischen Welt weitgehend aufgegeben worden.
"Wir haben hier praktisch keine Möglichkeiten einzugreifen"
Heinlein: Wie sollte vor diesem Hintergrund der Westen, wie sollten wir Deutschen, wie sollte Europa reagieren auf die Proteste in Ländern wie Algerien oder dem Sudan?
Meyer: Wir müssen einfach sagen, dass gerade deutsche Einflussmöglichkeiten, sowohl in Algerien, als auch im Sudan, außerordentlich gering sind. Wir haben hier praktisch keine Möglichkeiten einzugreifen. Diejenigen, die die größten Einflussmöglichkeiten haben, sind die drei arabischen Länder, die ich schon genannt hatte, aber auch die USA, die sicherlich eine wichtige Rolle spielt. Frankreich mit seinen engen Beziehungen zur ehemaligen Kolonie Algerien dürfte auch sehr gute Kontakte haben. Aber direkte Einflussmöglichkeiten sind eher gering. Vor dem Hintergrund kann von europäischer Seite relativ wenig gemacht werden, um die autoritären Verhältnisse in der arabischen Welt tatsächlich zu verändern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.