Auch aus dem westlichen Ausland wächst der Druck auf das Regime in Belarus – das allerdings setzt noch auf den Nachbarn Russland. Wohl ohne Erfolg, meint Dirk Wiese. Er ist Koordinator der Bundesregierung für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der östlichen Partnerschaft, also auch Belarus. Wiese gleubt, dass die russische Seite einem innerbelarussischen Dialog, der möglicherweise zu einer Machttransformation führen könne, nicht entgegenstehen würde.
Christiane Kaess: Bevor wir über die Rolle Russlands sprechen, bleiben wir erst mal noch bei Belarus selbst. Konnten Sie in den vergangenen Tagen Gesprächskanäle im Land nutzen?
Dirk Wiese: Die Bundesregierung nutzt viele Möglichkeiten, um vor und nach den Wahlen die belarussische Führung darauf hinzuweisen, dass das, was wir gesehen haben, keine fairen und freien Wahlen gewesen sind, dass wir große Besorgnis haben über die brutale Polizeigewalt, die Gewalt durch die Sicherheitskräfte in Belarus, dass wir immer wieder dahin mahnen, die OSZE-Prinzipien – Belarus ist selbst Mitglied der OSZE und hat entsprechende Standards auch unterzeichnet –, wir mahnen zur Einhaltung. Wir haben das übrigens auch schon vor den Wahlen getan, das will ich sehr deutlich sagen, auch mit unseren europäischen Partnern gemeinsam, weil auch vor den Wahlen schon vieles im Argen gewesen ist. Es sind Präsidentschaftsbewerber überhaupt nicht zugelassen worden, teilweise verhaftet worden. Es wurde eine unabhängige Wahlbeobachtung durch die OSZE, durch den Europarat auch erst gar nicht ermöglicht, das heißt, wir haben vor den Wahlen schon an die Führung appelliert, faire und freie Wahlen zuzulassen.
"Die Bilder waren schockierend"
Kaess: Welche Reaktion bekommen Sie denn von der anderen Seite, Herr Wiese?
Wiese: Von der anderen Seite wird sich immer erst mal vordergründig eine äußere Einmischung verbeten, es wurde abgelehnt, letztendlich auch Wahlbeobachtungen zuzulassen. Wir weisen aber trotzdem immer wieder darauf hin, und wir versuchen auch natürlich im Gespräch zu bleiben, dass eine Situation und eine Lage nicht weiter eskaliert. Die Bilder, die wir in der vergangenen Woche mit der Polizeigewalt, der Gewalt der Sicherheitskräfte gesehen haben, die waren schockierend. Wir haben jetzt auch schon die ersten Konsequenzen mit unseren europäischen Partnern auf europäischer Ebene am Freitag beim Außenministertreffen gezogen.
Es wird diese Woche weiterberaten werden, gerade auch im morgigen Sondergipfeltreffen der Europäischen Union, wo Deutschland übrigens eine wichtige Rolle zukommt, da wir gerade auch die Ratspräsidentschaft innehaben. Aber noch mal: Man muss schauen, wie man jetzt die entsprechenden Kanäle auch nutzt, weil es wird gerade auch von der belarussischen Führungsebene das Narrativ vorbereitet, alles, was momentan stattfindet, wäre sozusagen vom Ausland gesteuert, es sind ausländische Kräfte am Werk, die Belarus eine Veränderung aufdrücken wollen. Ich glaube, man muss gerade sehr deutlich machen, dass das Gegenteil der Fall ist. Es ist eine sehr heterogene Bewegung von Bürgerinnen und Bürgern, die für Selbstbestimmung, für Freiheit, für freie und faire Wahlen auf die Straße gehen. Wenn man sich die Bilder anschaut von den Protesten, dann sehen wir auch nicht wie vielleicht 2014 in der Ukraine viele Europafahnen, nein, das sehen wir gerade nicht.
Wir sehen die weiß-rot-weiße ursprüngliche belarussische Fahne, und das ist ein Zeichen dafür, dass hier nichts mit äußerer Einmischung zu tun hat, sondern dass die Bürger und Bürgerinnen in Belarus nach 26 Jahren Lukaschenko, nach einem erneuten Nichtstattfinden von fairen und freien Wahlen es einfach momentan satt haben und sie Selbstbestimmung wollen. Sie wollen ihre Zukunft eigenmächtig in die Hand nehmen, und das muss man jetzt auch immer wieder verdeutlichen und sagen, hier findet keine äußere Einmischung statt, sondern die Bürgerinnen und Bürger gehen auf die Straße, weil sie eine Zukunftsperspektive wollen – übrigens, junge und ältere Bürgerinnen zusammen in einer Größe von Demonstrationen, wie es viele auch nicht erwartet haben.
"Sehr deutlich machen, dass friedliche Demonstrationen zulässig sind"
Kaess: Das sehen wir auf den Bildern, Herr Wiese. Sie nutzen wahrscheinlich auch informelle Gespräche, und deshalb würde ich Sie gerne nach Ihrem Eindruck fragen. Was glauben Sie denn, was ist Ihre Einschätzung, sind Lukaschenkos Tage als Präsident von Belarus gezählt?
Wiese: Seit letzten Sonntag, seit der Bekanntgabe des sehr fragwürdigen Wahlergebnisses ist vieles im Fluss momentan. Es gibt unterschiedliche Analysen, wo es hingehen könnte. Es war in der letzten Woche, nachdem wir die Bilder …
Kaess: Was ist Ihr Eindruck, was glauben Sie?
Wiese: Ja, ich komme gerne auf Ihre Frage – ich antworte sehr gerne. In der letzten Woche, als wir die Polizeigewalt gesehen haben und die brutalen Übergriffe, auch die Fotos der gefolterten Demonstranten in den Gefängnissen, wo letztlich ein autokratischer Herrscher sich möglicherweise in die Ecke gedrängt fühlt, haben viele gesagt, das kann eine Entwicklung sein, wo bis zum Äußersten gegangen wird, wo wir möglicherweise ein Tian’anmen, ein chinesisches Szenario erleben wie Ende der 80er-Jahre. Jetzt sagen viele, es kann eine andere Entwicklung nehmen. Es kann eine Entwicklung nehmen, gerade auch wie sie in Armenien stattgefunden hat, wo eine friedliche Demonstration dazu geführt hat, dass es einen Machtwechsel gegeben hat.
Was jetzt wichtig ist, ist, glaube ich, dass wir der belarussischen Führung und Lukaschenko noch mal sehr deutlich machen, dass friedliche Demonstrationen zulässig sind, dass die Gewalt gegenüber Demonstranten eingestellt werden muss und dass wir letztendlich zu einem innerbelarussischen Dialog kommen müssen, zu einem Runden Tisch kommen müssen mit der Opposition, mit dem derzeitigen Machtapparat, auch die Rolle der Gewerkschaften noch mal stärker in den Blick nehmen, weil ja gerade auch in den letzten Tagen aus den Staatsbetrieben heraus, was man in dieser Form so nicht erwartet hatte, ja auch ein erhebliches Protestpotenzial bis hin zu Aufrufen von Streiks gekommen ist. Darum glaube ich, dass wir appellieren müssen, dass es einen innerbelarussischen Dialog gibt, der möglicherweise von außen unterstützt wird. Ich denke da zum Beispiel an die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die OSZE, wo ja sowohl Belarus und übrigens auch Russland Mitglied sind, wo man sicherlich auch solche Möglichkeiten letztendlich auch schaffen kann.
"Die Zahl der Freigelassenen war ja eher eine kleine Zahl"
Kaess: Das ist jetzt ein Format, Herr Wiese, das von mehreren Seiten auch schon angesprochen wurde und vorgeschlagen wurde. Wir müssen aber bei allem über die Rolle Russlands noch sprechen, denn das wird ja eventuell ein entscheidender Faktor in der ganzen Entwicklung sein. Was ist Ihre Einschätzung, was wird Putin, was wird die russische Regierung tun?
Wiese: Es ist von vielen gesagt worden, dass Russland ein Szenario wie in der Ukraine nicht hinnehmen würde. Darum habe ich ja auch gerade gesagt, aus meiner Sicht entwickelt es sich eher in Richtung das, was wir in Armenien erlebt haben, wo es eine friedliche Revolution gegeben hat, eine friedliche Veränderung der Machtverhältnisse gegeben hat – obwohl man nicht von friedlich sprechen kann, wenn wir die Brutalität der Sicherheitskräfte in der letzten Woche in Minsk gesehen haben, und übrigens auch noch, das will ich sagen, viele Tausend Demonstranten sich immer noch in belarussischen Gefängnissen befinden aktuell. Die Zahl der Freigelassenen, die wir momentan gesehen haben, war ja eher eine kleine Zahl. Wir haben auch übrigens viele Fragezeichen zu Demonstrantinnen und Demonstranten, die festgenommen sind und die bis heute verschwunden sind.
Kaess: Das heißt aber Herr Wiese, noch mal, um zu Russland zurückzukommen, Sie glauben, wenn ich Sie richtig verstehe, nicht, dass Russland militärisch eingreifen würde, obwohl es ein Militärbündnis zwischen Belarus und Russland gibt.
Wiese: Stand heute ist – und das ist meine Bewertung, wenn ich mir auch die entsprechenden Verträge anschaue, die Verträge letztendlich der OVKS, aber mir auch den 99 abgeschlossenen Unionsvertrag anschaue –, dass es aktuell keine rechtliche Grundlage für Russland gibt, hier zu intervenieren. Ich will noch mal darauf zukommen: Wenn ich mir die Bewegung anschaue, die momentan in Belarus für Selbstbestimmung, für Freiheit und für faire Wahlen auf die Straße geht, das ist keine Bewegung, die irgendwie proeuropäisch ist oder antirussisch ist, nein, die gehen für eine Selbstbestimmung in Belarus auf die Straße.
"Wichtig, dass es keine äußere Einmischung gibt"
Kaess: Das haben Sie gesagt, Herr Wiese, aber noch mal meine Frage: Wird die Regierung in Moskau akzeptieren, dass Lukaschenko gestürzt wird, wenn es dazu kommen sollte?
Wiese: Da möchte ich Ihnen ja gerne drauf antworten, darum versuch ich’s noch einmal: Ich glaube, dass wenn die russische Seite erkennt, dass nicht von außen irgendetwas gesteuert ist, sondern dass es eine innerbelarussische Bewegung ist, wie es auch damals in Armenien gewesen ist, wo letztendlich auch die russische Seite das mitgetragen hat, dann glaube ich, dass die russische Seite einen innerbelarussischen Dialog, der möglicherweise zu einer Machttransformation kommen kann, dem auch nicht entgegenstehen würde. Darum ist es für mich immer wichtig zu betonen, dass es hier keine äußere Einmischung gibt und dass auch nichts vom Ausland gesteuert ist, sondern dass hier die Bürgerinnen und Bürger in Belarus für Selbstbestimmung und für Freiheit auf die Straßen gehen und dagegen friedlich momentan demonstrieren.
Das ist auch etwas, glaube ich, wo Russland das auch erkennt, weil man muss auch eindeutig sagen, dass das belarussisch-russische Verhältnis in den letzten Jahren sehr schwierig gewesen ist. Wir haben gesehen, dass Lukaschenko an vielen Stellen eine engere Zusammenarbeit, sag ich mal ein Ausfüllen des einmal abgeschlossenen Unionsvertrages nicht gewollt hat, dass Russland gerade auch im wirtschaftlichen Bereich das Wirtschaftsmodell durch entsprechende Steuerveränderungen infrage gestellt hat, dass Belarus sich in den vergangenen Jahren auch sehr Richtung China gewandt hat. Wir erleben heute, dass in Belarus gerade ein wichtiger Transport-Hub im Rahmen dieser sogenannten Seidenstraße sich etabliert hat, und übrigens auch, dass die Vereinigten Staaten gerade erst wieder gesagt haben, wir schicken einen Botschafter nach Belarus, und wir liefern übrigens auch Öl nach Belarus. Das heißt, das Verhältnis Belarus-Russland ist längst nicht mehr so gut, und das Verhältnis Putin-Lukaschenko – so nehme ich es jedenfalls in den letzten Jahren wahr – ist auch merklich abgekühlt. Das heißt, man wird sich in Russland sicher nicht mit aller Macht an Lukaschenko klammern, wenn es eine Möglichkeit gibt letztendlich, diese Unionsverträge auch weiter am Laufen zu halten.
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