Kiew Ende 2013. Die Proteste Hunderttausender Menschen auf dem Maidan gegen die prorussische Regierung der Ukraine – sie sind Alexander Lukaschenko im Nachbarland Belarus bis heute eine Warnung. Damals verbünden sich hunderte Ultras von rivalisierenden Fußballklubs. Sie errichten Barrikaden und schützen Demonstranten vor Schlägertrupps. Am Ende muss der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch zurücktreten. Lukaschenko lässt deshalb, sagt der Osteuropa-Aktivist Ingo Petz aus dem Bündnis "Fankurve Ost", Ultras in Minsk überwachen.
"Wenn Ihr weiter aktiv seid, dann wandert Ihr in den Bau"
"Die werden tatsächlich direkt vom KGB angesprochen und sagen: ,Wir haben euch auf dem Kieker. Und wenn Ihr weiter aktiv seid, dann wandert Ihr in den Bau.‘ Man hat Schauprozesse geführt gegen einige wichtige Ultra-Anführer in Belarus. Wo man dann teilweise für Schlägereien, die stattgefunden haben, aber bei denen keiner zu Schaden gekommen ist, drakonische Strafen verhängt hat. Also bis zu acht, neun Jahren Lagerhaft. Und diese organisierten Fanszenen sind eigentlich schon in den letzten Jahren mehr oder weniger zerschlagen worden."
Fan wurde tot im Wald aufgefunden
Einige Fangruppen in Belarus bestehen aber noch heute, wenn auch kleiner als in Russland, Polen oder in der Ukraine. Doch auch 2020 wurden vor der Präsidentschaftswahl einige ihrer Anführer festgenommen und erst danach wieder freigelassen. Und auch bei den aktuellen Massenprotesteten sind einzelne Ultras in Minsk dabei, allerdings nicht mit ihren Symbolen in größeren Gruppen.
"Die Ultras wollen keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, das wäre eine Bedrohung für sie", erklärt Waldzis Fuhasch, Mitgründer der belarussischen Menschenrechtsorganisation Human Constanta. "Und ihre Sorge wurde bestätigt. Im August nahm der 28-jährige Fußballfan Nikita Kriwzow in Minsk an einer Demo teil. Mehr als eine Woche später wurde er tot in einem Wald gefunden. Die Polizei behauptet, er habe sich wegen Eheproblemen das Leben genommen. Doch seine Freunde glauben, er wurde umgebracht."
Ein General an der Spitze des Verbandes
Fans sammelten Spenden für die Familie von Nikita Kriwzow. In seiner Heimatstadt Maladsetschna nahmen Spieler an einer Trauerzeremonie teil. Von den wichtigsten Sportfunktionären äußerte sich niemand. Neben dem Eishockey hängt der Fußball besonders von staatlicher Förderung ab. Alexander Lukaschenko, seit 1997 Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, ließ in Vereinen Vertraute aus Militär, Geheimdienst und Staatsbetrieben platzieren. Präsident des Fußballverbandes ist der ehemalige General Wladimir Basanow, berichtet der belarussische Journalist Yagor Khawanski.
"Der Fußballverband schickte einen Rundbrief an die Vereine. Darin forderte er von Spielern und Funktionären politische Zurückrückhaltung. Doch der Verband selbst scheint dieses Neutralitätsgebot nicht ernst zu nehmen. Denn er veröffentlichte vor der Präsidentschaftswahl auf seiner Internetseite Auszüge von einer Rede Lukaschenkos. Dazu die Überschrift: ,Wir werden Belarus nicht aufgeben.‘"
Uniform in den Müll
Von den aktuellen Nationalspielern hat Ilja Schkurin von ZSKA Moskau angekündigt, unter Präsident Lukaschenko nicht mehr für Belarus spielen zu wollen. Michail Zalewski, Generaldirektor des Rekordmeisters Bate Borissow, warf seine Militäruniform demonstrativ in den Mülleimer. Mykola Janusch vom FC Isloch gehörte zu jenen Torschützen, die auf dem Rasen die Faust hoben, in Solidarität mit der Opposition. Alexander Apeikin hofft, dass sich weitere Stimmen erheben. Der Handballmanager hatte einen offenen Brief initiiert, den mittlerweile rund 550 Sportler unterzeichnet haben. Allerdings auch mit Konsequenzen.
"Also es gibt bei uns zirka 15, 20 Leute, die entlassen wurden oder Geld verloren haben. Bei ihnen ist es auch sehr kompliziert, weil sie erhalten jetzt manchmal finanzielle Prüfungen. Oder einen bestimmten Druck nach dieser Aktion."
Diesen Druck spürt in der zweiten Liga der FC Krumkatschi, einer der wenigen privat finanzierten Fußballklubs in Belarus. Zwei seiner Spieler wurden nach Protesten vorübergehend festgenommen, sein ehemaliger Torhüter Evgenij Kostjukevič wandte sich mit einer Rede an streikende Arbeiter. Bei einem Spiel lief Krumkatschi mit dem Schriftzug auf: "Wir sind gegen Gewalt." Vor dem Anpfiff dann Applaus für die Demonstranten. Von den großen Vereinen wie Dinamo Minsk oder Dinamo Brest waren solche Zeichen nicht zu sehen. Der langjährige belarussische Basketball-Nationalspieler Jegor Mescherjakow wünscht sich mehr Solidarität aus dem Fußball, vermutet aber auch: "Wahrscheinlich werden Spieler, Trainer und Funktionäre intern eingeschüchtert. Leider wollen viele nicht ihre Komfortzone verlassen. Sie haben Angst, ihre Gehälter und ihre Sicherheit zu verlieren. Wir müssen die Sportler zu einer Gemeinschaft zusammenführen."
Sportmedien im Internet gesperrt
Seit der Präsidentschaftswahl werden Fußball-Ligaspiele ohne Zuschauer ausgetragen, angeblich wegen Corona. Noch im Frühjahr – auf dem Höhepunkt der Pandemie – war Belarus das einzige europäische Land mit gefüllten Stadien gewesen. Wer solche Entscheidungen öffentlich mit Protesten in Verbindung bringt, der muss mit Repression rechnen – auch in den Medien, davon ist Journalist Yagor Khawanski überzeugt: "Sportjournalisten hätten sich niemals träumen lassen, dass sie in Belarus mal als Staatsfeinde gelten. Mehrere Medien haben über die Proteste der Athleten berichtet. Danach wurden im Internet große Sportportale wie Tribuna von der Regierung gesperrt. Abonnenten wurden unter Druck gesetzt, ihre Zeitungen abzubestellen. Die Begründung: Solche Artikel seien gefährlich für die nationale Sicherheit."
In den 26 Jahren unter Alexander Lukaschenko blieb im Fußball kaum Raum für zivilgesellschaftliche Projekte. Eine der wenigen Ausnahmen ist der FC Autazak, ein antirassistisches Freizeitteam in Minsk. Der Name "Autazak" ist ironisch gemeint und bedeutet: Gefangenentransporter.