Brasilien zählt zu den wenigen Staaten auf der Erde, in denen die Corona-Infiziertenzahlen immer noch steil nach oben gehen. Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro hat das Virus von Anfang an kleingeredet. Mittlerweile gibt es Demonstrationen gegen ihn - nicht nur wegen seines Umgangs mit der Coronakrise. Die Gründe für den Protest schildert Anja Czymmeck, Leiterin des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brasilien.
Tobias Armbrüster: Frau Czymmeck, am Wochenende hat es die ersten größeren Proteste gegen Bolsonaro gegeben. Warum hat das so lange gedauert?
Anja Czymmeck: Es hat schon in der vergangenen Woche Proteste gegeben. Es sind sowohl Protestanten auf die Straße gegangen, die für Bolsonaro, aber auch gegen Bolsonaro demonstriert haben. Die Brasilianer sind eigentlich nicht so demonstrationsfreudig. Es dauert immer sehr lange, bis sie überhaupt auf die Straße gehen – vielleicht anders als in anderen lateinamerikanischen Ländern.
Vorwürfe: Verharmlosung, Amtsmissbrauch, Polarisierung
Armbrüster: Was genau sind die Vorwürfe, die jetzt gegen den Präsidenten laut werden?
Czymmeck: Die Vorwürfe sind sicherlich zunächst die Verharmlosung der Pandemie. Von Anfang an hat ja Bolsonaro die Pandemie als kleine Grippe verharmlost. Und es gab dann Streit mit den Gouverneuren und Bürgermeistern um die Maßnahmen, die man in dieser Pandemie eingeht. Es wurde ihm dann mangelndes Krisenmanagement vorgeworfen. Inmitten der Pandemie gab es Streit mit dem Gesundheitsminister und innerhalb weniger Wochen wurden zwei Gesundheitsminister entlassen, beides Ärzte. Der eine wollte die Isolationsmaßnahmen streng einhalten, der andere hat sich gegen den Einsatz von Chloroquin ausgesprochen. Beide sind entlassen worden.
Dann gab es auch auf dem Höhepunkt die Trennung von Justizminister Sergio Moro, die Galionsfigur der Anti-Korruptionsbewegung hier in Brasilien, verbunden mit dem Vorwurf des Amtsmissbrauchs. Sergio Moro ist aus dem Amt geschieden, indem er dem Präsidenten vorgeworfen hat, er nimmt Einfluss auf die Polizei, und zwar in dem Maße, dass er seine Söhne vor polizeilicher Verfolgung schützen möchte.
Dann ist natürlich noch der Vorwurf, dass er die Polarisierung der Gesellschaft weiter vorantreibt. Es wurde ja auch in deutschen Medien berichtet, in der vergangenen Woche gab es große Demonstrationen. Und er hat dann sich seinen Unterstützern bei diesen Demonstrationen genähert, und zwar waren das in erster Linie auch Demonstranten, die gegen die Institutionen des Landes, gegen den Kongress, gegen den Obersten Gerichtshof demonstriert haben. Er hat sich dann mit ihnen verbündet.
Dann gab es das Video von der Kabinettssitzung, das für Furore gesorgt hat, in dem er sich auch für die Bewaffnung der Bevölkerung ausspricht. Einige seiner Minister haben sich doch sehr deutlich gegen Richter und Gouverneure ausgesprochen. Und das ließ den Vorwurf auch laut werden, dass er die Gewaltenteilung als nicht schützenswert empfindet. Und dann natürlich noch, dass er mehr Macht an sich reißen möchte.
"Bolsonaro versucht, sich mit aller Macht zu behaupten"
Armbrüster: Genauso sieht es aus, Frau Czymmeck. Da scheint einiges zusammenzukommen. Sie haben das Stichwort genannt: die Macht an sich reißen. Kann es sein, dass für diesen Präsidenten Jair Bolsonaro die Coronakrise gerade recht kommt, dass er sie als Kulisse nutzt für andere politische Projekte?
Czymmeck: Das glaube ich auch. Natürlich geht es für ihn um die Macht, um das politische Überleben. Die Coronakrise bringt mit sich: Die Wirtschaft hier ist auf Talfahrt. Und er ist auch angetreten, nicht nur die Korruption zu bekämpfen, die Kriminalität, sondern er wollte auch die Wirtschaft insbesondere beflügeln. Und das ist natürlich jetzt nicht mehr der Fall. Es geht hier um einen sehr starken Machtverlust durch diese Wirtschaftskrise. Und in diesem Ambiente versucht er, sich jetzt mit aller Macht zu behaupten.
Armbrüster: Sie haben von den verschiedenen Entlassungen seiner Minister gesprochen, auch von der Art und Weise, wie er Einfluss nehmen will auf die Arbeit der Polizei. Was ist an dem Vorwurf dran, dass er mehr und mehr wie ein Diktator auftritt?
Czymmeck: Diktator – das Wort finde ich jetzt ein bisschen hart. Er hat sicherlich autoritäre Züge und er hat die Stellen, die frei wurden, oder viele Stellen auch in den Ministerien mit Militärs besetzt. Er selber ist ja auch aus dem Militär hervorgegangen. Die Leute folgen seinen Befehlen. Und die Minister, die er entlassen hat, die haben sich ihm entgegengestellt. Wenn jetzt Stellen nicht mehr nach fachlicher Kompetenz unbedingt besetzt werden, sondern in erster Linie mit Militärs, dann geht es auch sicherlich darum, dass diese Militärs einfach Befehle ausführen.
"Noch funktionieren die demokratischen Institutionen"
Armbrüster: Jetzt haben wir die Proteste am Wochenende erwähnt. Wie stark ist denn die Opposition im Land? Wie stark sind die politischen Institutionen, um so einem Präsidenten entgegenzutreten?
Czymmeck: Noch funktionieren die demokratischen Institutionen. Und ich denke auch, sie haben sich bis jetzt als stark erwiesen. Es gibt jetzt immer mehr – man liest es im Internet, man liest es in der Zeitung – Oppositionspolitiker, die sich zusammenschließen. Die Demokratie wird auf jeden Fall verteidigt. Die akzeptieren das nicht, dass man irgendwelche autoritären Züge hier zulassen möchte. Das sieht man auch heute. Die Proteste, die heute in Sao Paulo stattgefunden haben, die Befürworter der Demokratiebewegung, die waren natürlich in größerem Maße auf der Straße unterwegs als jetzt die Unterstützer von Bolsonaro.
Armbrüster: Dann müssen wir zum Schluss noch kurz tatsächlich über Corona selbst sprechen. Wie sehr macht sich dieses Virus denn im Alltag in Brasilien bemerkbar?
Czymmeck: Die Zahlen – das haben Sie am Anfang erwähnt – steigen wirklich. Heute sind wir bei 685.000 Infizierten, weit über 37.000 Toten. Innerhalb von 24 Stunden steigen die Toten zwischen 1000 und 1500. Jetzt kommt neu hinzu – das ist die aktuelle Entwicklung -, das Gesundheitsministerium hat erklärt, man möchte jetzt nicht mehr die Zahlen so bekanntgeben, wie das bisher der Fall war. Das hat sich schon angedeutet. Sie wurden immer später am Tag verkündet. Und dann hat auch Bolsonaro gesagt, er möchte nicht, dass das in den Hauptnachrichten läuft. Man merkt, die Gesellschaft wird immer nervöser, weil die Arbeitslosenzahlen steigen. Die Wirtschaft befindet sich auf Talfahrt. Dieses Virus schwächt die Ärmsten noch mehr. Und das Gesundheitssystem ist diesem Ausmaß der Pandemie überhaupt nicht gewachsen. Ganz schlimm geht es auch im Amazonas zu. Da sind die Zahlen oder das, was uns von Partnern der Konrad-Adenauer-Stiftung berichtet wird, wirklich sehr beängstigend. Es gibt einmal die Gefährdung der Gesundheit, der Wirtschaft durch dieses Virus. Und man weiß nicht, was das für Folgen für die Demokratie im Land hat.
Armbrüster: Frau Czymmeck, zum Schluss noch eine kurze Frage mit Bitte um eine kurze Antwort. Sie als Deutsche in Brasilien, wie sicher fühlen Sie sich in dem Land noch?
Czymmeck: Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, ich fühle mich sicher. Mir macht die Pandemie Sorge. Da fühle ich mich unsicher. Aber ich kenne Brasilien schon ein bisschen länger und ich habe mich eigentlich noch nie besonders unwohl gefühlt. Jetzt allerdings durch diese Infiziertenzahlen - und die Dunkelziffer ist groß -, das macht mir wirklich Sorge. Da habe ich schon Angst vor, muss ich sagen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.