US-Senator Chris Coons hat es so ausgedrückt: "Es ist, als erlebe das Land die spanische Grippe von 1918, den Börsensturz von 1929 und die Rassenunruhen von 1968 alle auf einmal." Der Demokrat aus dem US-Bundesstaat Delaware meinte damit Corona, die hohe Arbeitslosigkeit in Folge der Pandemie sowie die Unruhen und Ausschreitungen nach George Floyds Tod. Ein Polizeibeamter hatte minutenlang auf dem Hals des Afroamerikaners gekniet, der verdächtig war, weil er mit einem gefälschten Geldschein bezahlt hatte. Seither gibt es friedliche Demonstrationen, aber auch gewalttätige Proteste in vielen Städten der Vereinigten Staaten. Den ehemaligen US-Botschafter in Deutschland, John Kornblum, erinnern die Zustände an das Jahr 1968, indem Martin Luther King und Robert Kennedy ermordet wurden. "Es gibt Ähnlichkeiten, aber es gibt natürlich auch große Unterschiede", so Kornblum.
Die Tötung von George Floyd habe das Fass zum Überlaufen gebracht. Nach zwei Monaten Quarantäne seien die Leute bereits gereizt, ungeduldig und sauer gewesen. "Das alles war eine ziemlich explosive Mischung." Der US-Präsident wirke derzeit so als habe er starke emotionale und psychologische Probleme. "Er igelt sich ein, er redet sehr wenig in der Öffentlichkeit."
Joe Biden, Trumps absehbarer Herausforderer der Demokraten bei der Präsidentenwahl, mache hingegen derzeit vieles richtig. "Er gibt sich jetzt ziemlich besonnen. Er ist ruhig und ausgeglichen, aber zur gleichen Zeit kritisiert er die Zustände und er kritisiert auch den Präsidenten für sein Verhalten", so Kornblum.
Das Interview in voller Länge
Christoph Heinemann: Wie haben Sie Nashville in den letzten Tagen erlebt?
John C. Kornblum: Na ja, hier in der Stadt ist es sehr aktiv, sehr bunt gewesen. Aber natürlich als Bürger hat man auch Fernsehen geschaut, weil heute auch die Beerdigung von George Floyd war und weil es auch viele andere Ereignisse gegeben hat in anderen Städten. Hier in Nashville haben wir zwei ganz verschiedene Demonstrationen gehabt. Am ersten Abend gab es eine Demonstration, die beantragt worden ist, die genehmigt worden ist, und sie wurde tatsächlich nachher entführt von Chaoten, die Brände gelegt haben, die Schaufenster zerschmettert haben etc. etc. Es war eine sehr unangenehme und auch wahrscheinlich gefährliche Nacht. Am nächsten Tag hat die Stadt sich irgendwie zusammengerauft und vor allem die Nationalgarde. Das muss man verstehen. Die Nationalgarde sind Sicherheitskräfte des Bundesstaates, sind aber auch Teil der Armee und sehen aus wie Soldaten, aber sie sind unter der Führung vom Gouverneur, nicht vom Präsidenten. Die Nationalgarde hat eine sehr positive Haltung eingenommen, hat alle ihre Waffen niedergelegt vor den Demonstranten und hat gesagt, wir sind Freunde, wir müssen zusammenarbeiten. Heute hatten wir noch eine längere Demonstration von zehn oder 15.000 Menschen, hauptsächlich junge Leute, alles friedlich und ohne Schwierigkeiten. Nach einem Abend der Ratlosigkeit, dürfte ich sagen, am nächsten Tag haben wir wieder Hoffnungen schlagen können.
Heinemann: Herr Kornblum, wenn Sie auf die vergangene Woche zurückblicken und sich die Lage im gesamten Land anschauen, haben Sie etwas Vergleichbares früher in den USA schon einmal erlebt?
Kornblum: Ja, und das hat ein bisschen auch mit meinem etwas fortgeschrittenen Alter zu tun. Ich war schon im Diplomatischen Dienst. Ich lebte in Washington im Jahr 1968, als wir zwei Tötungen hatten, Martin Luther King und Robert Kennedy. Nach dem Tod von Martin Luther King hat es Unruhen und richtig gefährliche gewalttätige Unruhen in verschiedenen Städten gegeben, die über zwei Monate angedauert haben. Die Mitte von Washington DC wurde mehr oder weniger zerstört und erst 15, 20 Jahre später wieder aufgebaut. – Ja, ich habe das erlebt. Es gibt Ähnlichkeiten, aber es gibt natürlich auch große Unterschiede.
"Die Leute sind gereizt, ungeduldig, sauer - eine ziemlich explosive Mischung"
Heinemann: Wie erklären Sie sich die Brutalität des Polizisten in Minneapolis?
Kornblum: Das ist die Frage. Ich war gerade heute Abend bei Freunden und wir haben das zwei Stunden lang diskutiert. Über die letzten 20 oder so Jahre, vielleicht ein bisschen länger, hat es in dieser Frage eher Rückschritte gegeben. Nach den ziemlich aktiven und am Ende hoffnungsvollen Bürgerrechtsbewegungen der 60er- und 70er-Jahre gab es eine Phase der ruhe, aber jetzt, sagen wir seit 2010, 2012, ist es anders herum geworden. Das ist natürlich auch die Zeit, wo Barack Obama Präsident war, und die Tatsache, dass es einen schwarzen Präsident gegeben hat, auch eine Rolle spielt, das kann ich nicht sagen. Aber zunehmend ist die Polizei militarisiert worden. Zunehmend ist sie etwas weg von der Gesellschaft gekommen, eine Kraft für sich. Nicht nur Schwarze haben Schwierigkeiten mit der Polizei, aber hauptsächlich Schwarze. Und wenn man die Filme von dem Tod von George Floyd anschaut – man kann sagen, muss ich sagen, um jetzt nicht zu voreingenommen zu sein, es sieht wirklich aus, als ob der Polizist ihm weh tun wollte. Dieser Zustand existiert in vielen Teilen des Landes und ich glaube, das ist auch ein bisschen jetzt zum Überlaufen gekommen, weil wir natürlich auch diese zwei Monate von Quarantäne gehabt haben. Die Leute sind gereizt, sie sind ungeduldig, sie sind sauer, und das alles war eine ziemlich explosive Mischung.
Heinemann: Herr Kornblum, Sie kennen beide Länder. Unterscheidet sich der Rassismus in den USA vom Rassismus in Deutschland?
Kornblum: Ja, weil es verschiedene Ursachen gibt. Das gibt es in beiden Ländern, da haben Sie völlig recht. Die Ursachen in den Vereinigten Staaten gehen 400 Jahre zurück, als die ersten schwarzen Sklaven, nebenbei gesagt, von Engländern und Holländern hier eingeführt wurden, und zu dem Zeitpunkt hat man – und das war auch ein europäisches Bild – Schwarze, hat man Länder aus diesen Ländern nicht für voll zurechnungsfähig, nicht als Menschen gesehen. Das wissen wir – nicht nur in den USA, sondern auch überall. Aber diese Tatsache hat seitdem unsere Gesellschaft geprägt, wie Sie wissen. Wir haben auch darüber einen furchtbaren Bürgerkrieg gekämpft. Der Rassismus in Deutschland - kommt darauf an, wie man das jetzt beschriebt, aber es hat auch längerfristige kulturelle Gründe, aber es hat auch sehr jetzt mit Flüchtlingen und Einwanderung zu tun. Die europäischen Staaten, aber vielleicht vor allem Deutschland macht es sich schwer, Einwanderungsland zu sein, und die Gegensätze sind ziemlich stark.
Keiner unterstützt Trump bedingungslos
Heinemann: Was erwarten Sie von dem Präsidenten Ihres Landes?
Kornblum: Im Moment nicht sehr viel, ehrlich gesagt. Sie können sich vorstellen, ich bin kein Anhänger von ihm, aber ich wollte – ich habe das auch in der Presse in Deutschland geschrieben – ihm eine Chance geben. Aber in den letzten Tagen hat er gezeigt, dass er diesen Druck nicht aushalten kann, dass seine emotionellen, psychologischen Probleme sehr stark sind. Er igelt sich ein, er redet sehr wenig in der Öffentlichkeit, und wenn er redet, redet er über aggressiv sein, autoritär sein, die Demonstranten unterdrücken etc. etc. Er hat eine sehr schlechte Figur abgegeben in letzter Zeit.
Heinemann: Verteidigungsminister Esper lehnt einen Einsatz des Militärs ab. Der frühere Ressortchef Mattes warf Trump jetzt vor, das Land spalten zu wollen. Wer in der Regierung und in der Republikanischen Partei hält noch bedingungslos zu Donald Trump?
Kornblum: Na ja, es kommt darauf an, was man sagt. Bedingungslos sind fast keine auch seiner Unterstützer, aber in der Öffentlichkeit fast alle. Das ist der Unterschied. Ich glaube, der Punkt ist: Ein deutscher Freund sagte mir vorgestern, auch wir hier in Deutschland haben das Gefühl, dass Trump irgendwie magische Kräfte hat, und alles, was er will, kann er irgendwie durchboxen. Das glaube ich nicht, dass das stimmt, aber ich glaube, auch die Republikanische Partei glaubt daran. Das heißt, die Senatoren und die anderen, die haben Angst, dass diese 30 bis 35 Prozent, die ihm loyal bleiben, genug sind, um ihrer politischen Karriere ein Ende zu bereiten, und diese Angst ist sehr stark. Man liest in der Presse Privatgespräche, die man hat, wo die Republikaner das zugeben, aber in der Öffentlichkeit verhalten sich 100 Prozent zu ihm.
Präsidentschaftswahlen - "Es ist ein Lagerwahlkampf geworden"
Heinemann: Herr Kornblum, wie sollte Joe Biden, Trumps absehbarer Herausforderer der Demokraten bei der Präsidentenwahl, in den kommenden Wochen und im Wahlkampf jetzt reagieren?
Kornblum: Ich finde, er soll das tun, was er jetzt tut. Er gibt sich jetzt ziemlich besonnen. Er ist ruhig und ausgeglichen, aber zur gleichen Zeit kritisiert er die Zustände und er kritisiert auch den Präsidenten für sein Verhalten. Die strategische Lage für Biden ist etwas kompliziert, weil er jetzt in den Umfragen eine ziemlich starke Führung schon hat, 10 bis 15 Prozent – kommt darauf an, welche Umfrage man fragt, aber sagen wir um zehn Prozent. Das ist zu diesem Zeitpunkt eine sehr starke Führung. Aber es gibt so viele Unbekannte. Wir haben ja Corona noch nicht angesprochen, aber das war auch ein Joker in der ganzen Sache. Im Moment ist es sehr schwierig zu wissen, was stimmt, was nicht stimmt, was ist die richtige Strategie oder nicht. Und wie man merken kann, wenn man genau zuschaut: Man kann beliebig was sagen und erwarten, wenn man die richtige Gruppe anspricht, dass man auch Unterstützung bekommt. Das heißt, es ist ein Lagerwahlkampf geworden, und wenn man sein Lager befriedigt, dann hat man auch einen Vorteil. Die Inhalte sind nicht mehr so wichtig.
Heinemann: Wie wird diese dreifache Herausforderung – Sie haben Corona genannt; dazu kommt die Wirtschaft, die hohe Arbeitslosigkeit und jetzt die Proteste – voraussichtlich den Präsidentschaftswahlkampf und auch die Wahl beeinflussen?
Kornblum: Ja, das ist die große Frage, die jetzt gestellt wird. Wenn man das logisch anschaut, dann würde man sagen, Trump wird immer mehr in die Ecke gedrängt und seine Chancen schwinden. Aber es gibt auch Dinge – und damit hat er letztes Mal gewonnen -, indem er ganz, ganz stark auf Stabilität, Recht und Ordnung, Anti-Ausländer, Anti-Migranten etc. etc. pocht, dass er dann auch genug Wechselwähler gewinnen kann, um hier irgendwie durchzuziehen. Wie gesagt, im Moment sieht es für ihn sehr schlecht aus, aber, wie ich eben gesagt habe, man weiß im Moment nicht, was oben und was unten ist, weil die Kategorien sind total durcheinander. Ist es richtig, dass man eine Maske trägt, oder ist das eine Frage der Schwäche? Ist es richtig, dass man die Polizei unterstützt, oder hat die Polizei auch ihren ganzen Respekt verspielt? Auf alle Hauptfragen, die Sie auch angesprochen haben, kann man mit verschiedenen Antworten reagieren, ohne dass man weiß, ob das stimmt, oder ob man überhaupt ankommt. Das ist heute Neuland zumindest in der amerikanischen Politik. Biden, meine ich, macht es richtig, indem er sich ein bisschen zurückhält und eigentlich nur allgemeine, friedensstiftende Sätze sagt und nicht versucht, ganz neue Programme oder ganz neue Ideen voranzubringen.
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