Archiv

Proteste in Frankreich
"Bei uns wären solche Proteste dringend notwendig"

Die "Gelbwesten" seien keinesfalls eine rechte Bewegung, sagte der Linken-Politiker Klaus Ernst im Dlf. Die französischen Bürger würden sich zu Recht gegen Einschränkungen wehren. Auch in Deutschland sei es dringend nötig, dass die Menschen etwa gegen Kürzungen, Niedriglohn und Altersarmut protestieren, so Ernst.

Klaus Ernst im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Der Linken-Politiker Klaus Ernst spricht im Bundestag.
    Der Linken-Politiker Klaus Ernst wünscht sich eine deutsche "Gelbwesten"-Bewegung - allerdings eine gewaltfreie. (imago / photothek)
    Dirk-Oliver Heckmann: In Frankreich herrscht Chaos, kann man wohl sagen, seit Präsident Macron entschieden hat, dass die Benzin- und Dieselpreise steigen werden. Hunderttausende gingen auf die Straßen. Am Wochenende gerieten die Proteste nahezu außer Kontrolle. Die Gelbwesten setzten die französische Regierung enorm unter Druck – so stark, dass Macron jetzt ankündigte, die Steuererhöhungen bis Ende 2019 aufs Eis zu legen.
    Was steckt hinter dieser Bewegung der Gelbwesten? Dahinter verbergen sich Unzufriedene aus ganz Frankreich, von weit links bis weit rechts. Bräuchten wir so was auch in Deutschland? Darüber ist innerhalb der Linken ein Streit entbrannt und darüber können wir jetzt diskutieren mit Klaus Ernst, Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages, selbst Mitglied der Linken. Schönen guten Morgen, Herr Ernst!
    Klaus Ernst: Guten Morgen, Herr Heckmann.
    Heckmann: Ihre Fraktionschefin Sahra Wagenknecht hat sich ja als Fan der Gelbwesten geoutet. Sind Sie es auch?
    Ernst: Ich freue mich natürlich, dass die Franzosen sich ihr Land zurückerobern wollen, dass sie nicht akzeptieren, dass Renten gekürzt werden, dass es Reformen gibt, die letztendlich dazu führen, dass die Bürger ihren Geldbeutel festhalten müssen, weil sie weniger haben als vorher, dass sie sich gegen Benzinpreis-Erhöhungen wehren, die Steuern indiziert sind. Ja, da freue ich mich drüber. Aber ich denke trotzdem, dass es sehr schwierig ist, das auf Deutschland zu übertragen.
    "Macron ist ein Mann der Wirtschaft"
    Heckmann: Inwiefern? Wo sehen Sie ein Problem?
    Ernst: Die Franzosen sind anders. Das beginnt schon beim Wahlsystem. Macron hat zwar im zweiten Wahlgang eine große Mehrheit gekriegt, weil er gegen Le Pen angetreten ist. Aber im ersten Wahlgang, wenn Sie genau gucken, hat er ja weit unter 30 Prozent der Stimmen nur gehabt. Trotzdem ist er inzwischen Präsident und das zeigt, dass er von Anfang an nicht die Zustimmung hatte, die er gern gewollt hätte, weil die Bürger schon gemerkt haben, das ist ein Mann der Wirtschaft und nicht ein Mann der normalen Menschen in Frankreich. Das ist der erste Unterschied.
    Bei uns ist es so, dass durch ein Mehrheitswahlrecht Koalitionen möglich sind, wo alle Parteien im Ergebnis ihres Wahlerfolgs auch im Bundestag vertreten sind und dann in Koalitionen. Da ist der Ausgleich. Der findet vorher statt und nicht durch das, dass ein Präsident, der eigentlich keine Mehrheit hatte, dann eine Mehrheit bekommt über den zweiten Wahlgang und dann durchzieht gegen die Bürger. Das ist mit Deutschland einfach nicht vergleichbar. Insofern glaube ich nicht, dass sich in Deutschland in ähnlicher Weise was tut, auch wenn ich es mir wünschen würde – im Übrigen wünschen würde allerdings ohne die Gewalt, die inzwischen mit den Protesten der Gelbwesten verbunden ist.
    Die Gewalttätigen sind sicher auch in Frankreich nur eine Minderheit, die diese ganze Bewegung ein Stück weit erlauben zu diskreditieren. Aber das Ziel, was die Leute haben, das Ziel, nicht zu akzeptieren, dass gegen die Interessen der abhängig Beschäftigten, gegen die Interessen der Rentner regiert wird, das finde ich gut und das finde ich eigentlich nachahmenswert.
    "Keinesfalls eine rechte Bewegung"
    Heckmann: Noch ist Frankreich eine Demokratie und Macron hat sich in demokratischen Wahlen durchgesetzt im zweiten Wahlgang. Er hat dann eine Mehrheit bekommen. Das nur noch mal in Klammern gesetzt. – Herr Ernst, wenn Sie die Gewalttäter ansprechen: Es gibt ja nicht nur die Gewalttäter, sondern es gibt ja auch eine Reihe und eine recht große Fraktion wirklich sehr rechts stehender Menschen, die sich bei den Gelbwesten engagieren und dabei sind. Bernd Riexinger hat gesagt, Sahra Wagenknecht hat Unrecht im Prinzip, in meinen Worten gesprochen. Die Gelbwesten sind kein Vorbild für Deutschland, denn das Potenzial Ultrarechter in den Reihen der Bewegung sei besorgniserregend. Unterschätzt Sahra Wagenknecht, unterschätzen auch Sie dieses Problem?
    Ernst: Nein. Ich glaube, da liegen beide ein Stück weit falsch, und zwar aus folgendem Grund. Das ist keine Bewegung von links und es ist keine Bewegung von rechts. Das ist wirklich eine Bewegung von unten, eine Bewegung von Leuten, die noch nie politisch in irgendeiner Form in Erscheinung getreten sind, denen einfach die Verhältnisse – ich sage es auf Bayrisch – stinken und die sich deshalb dagegen wehren. Das ist keine rechte und keine linke Bewegung.
    Was natürlich passiert ist, dass sowohl die Rechten, aber auch natürlich linke Kräfte versuchen, dort mitzumachen beziehungsweise möglicherweise auch diese Proteste für sich zu instrumentalisieren. Das ist der Punkt! Aber es ist aus meiner Sicht keinesfalls eine rechte Bewegung, die wir da in Frankreich sehen. Die Bürger in Frankreich sind ja nicht rechts, sonst hätten sie ja auch anders gewählt. Die Bürger in Frankreich wehren sich gegen das, dass ihnen ihr Präsident Einschränkungen zumutet, die aus ihrer Sicht vollkommen falsch sind. Das ist der Punkt. Insofern ist es übertrieben zu sagen, das ist eine rechte Bewegung. Es ist aber auch übertrieben zu sagen, das wäre jetzt in Deutschland einfach übertragbar. Ich glaube, da ist der Bürger in Deutschland auch durch das, was ich vorher sagte, ruhiger, obwohl bei uns solche Proteste dringend notwendig wären.
    Heckmann: Das heißt, Sie würden sich so eine Bewegung auch wünschen in Deutschland?
    Ernst: Ich würde mir wünschen, dass die Bürgerinnen und Bürger auch in Deutschland aufstehen, im wahrsten Sinne des Wortes aufstehen und sich wehren dagegen, dass ihnen ebenfalls Kürzungen zugemutet wurden in der Vergangenheit, dass wir ein gespaltenes Land haben in der Bundesrepublik. Wir haben einen großen Teil, über 20 Prozent, die im Niedriglohn leben müssen. Wir haben ein Rentensystem, das dazu führt, dass immer mehr Leute in Altersarmut geraten. Dagegen wehren sich ja die Franzosen auch. Es wird darüber diskutiert, dass man noch länger arbeiten muss, obwohl man weiß, dass viele das überhaupt nicht aushalten. Wir haben auf der anderen Seite einen unsäglichen Reichtum in der Bundesrepublik Deutschland, der immer größer wird, die Armut ebenfalls größer wird. Wir haben eine gespaltene Gesellschaft und ich würde mir wünschen, dass auch wir tatsächlich eine Bewegung hätten, die allerdings von unten kommt wie eben in Frankreich und nicht von oben, und dass damit auch die politischen Parteien und die Leute, die in der Politik das ändern wollen, dass die damit Druck kriegen und auch Unterstützung.
    "Dieser Streit tut uns nicht gut"
    Heckmann: Aber, Herr Ernst, wenn die Lage so ist, wie Sie sie beschreiben, dann müssten die Wahlergebnisse für die Linken durch die Decke gehen, und das tun sie nicht. Die Linke stagniert.
    Ernst: Das ist unser Problem. Ich kann Ihnen auch sagen warum, weil wir inzwischen seit zwölf Jahren oder 13 Jahren zum Beispiel im Bundestag sitzen, zwar Forderungen haben, die durchaus richtig sind. Wir fordern, seit wir im Bundestag sitzen, Hartz IV muss weg, also ein anderes System für die, die am unteren Rande dieser Gesellschaft sind. Wir haben uns aber dort seit 13 Jahren nicht durchgesetzt und irgendwann fragen sich dann zum Beispiel auch die Bürger, was bringt Die Linke.
    Dass sie jetzt was bringt, sieht man zum Beispiel daran, dass die SPD diese Forderung aufgreift und ebenfalls darüber nachdenkt, dieses System zu ändern, dass die Grünen darüber nachdenken.
    Ein zweiter Punkt: Wir haben natürlich, was die AfD angeht, inzwischen eine Truppe, die sich diesen Protest zu Nutze macht und die auch entsprechend Wahlergebnisse erzielt. Wir haben drittens – und das ist auch unser Problem – nicht gerade Ruhe in der Partei, sondern wir haben dort einen Streit, der um die Zuwanderung geht, und dieser Streit tut uns ebenfalls nicht gut. Ich denke, dass all diese Faktoren dazu führen, dass wir momentan nicht zunehmen, obwohl eigentlich wir zunehmen müssten und hoffentlich auch tun, weil wir haben eigentlich die Konzepte, die tatsächlich dazu führen, dass sich für die Bürgerinnen und Bürger im Lande etwas verändert, zum Beispiel …
    "Eine vernünftige Politik bei der Zuwanderung"
    Heckmann: Moment, Herr Ernst! Um den letzten Punkt noch mal aufzugreifen: die Probleme, die auch hausgemacht sind. Es ist ja auch immer interessant, sich mit den Problemen vor der eigenen Haustür zu beschäftigen. Sie haben es selber gesagt: Die Linke wirkt gespalten, gelähmt durch diesen ewigen Zwist zwischen Wagenknecht auf der einen Seite und den sogenannten Realos auf der anderen Seite, vor allem in der Frage der Flüchtlingspolitik. Sie haben es gesagt. Zuletzt hatte ja Sahra Wagenknecht gegen die Demonstration "Unteilbar" gewettert und dann jetzt auch zuletzt gegen den UNO-Migrationspakt. Schadet sie ihrer Partei?
    Ernst: Genutzt hat uns das sicher nicht, wobei ich das Ganze auf den Kern zurückführen möchte. Sahra Wagenknecht sagt ja nicht, Asylrecht ändern oder irgend so was, sondern wir wollen das Asylrecht natürlich verteidigen und wir wollen auch, dass wir Zuwanderung haben können beziehungsweise Flüchtlinge aufnehmen, die aus Kriegsgründen fliehen. Das ist die eine Seite.
    Wir haben aber auf der anderen Seite natürlich auch den Zustand, dass viele Leute in dem Land bei uns sich inzwischen bedroht fühlen durch das, dass sie konkurrieren auf dem Arbeitsmarkt mit Leuten, die noch weniger haben als sie selber, dass sie um dieselben Wohnungen konkurrieren, und dieses Problem muss gelöst werden. Wenn wir bei uns in der Bundesrepublik eine Sozialpolitik hätten, die tatsächlich die Bürger, die wenig haben, in den Mittelpunkt stellt, dann hätten diese Bürger wahrscheinlich auch nichts dagegen, wenn mehr Leute zu uns kommen würden, weil sie fliehen und weil sie aufgenommen werden müssen. Das ist die eine Seite.
    Die andere Seite ist Zuwanderung über ein Einwanderungsgesetz. Da habe ich auch Bedenken. Ich habe Bedenken, wenn wir den Arbeitsmarkt öffnen für Leute, die dann am Arbeitsmarkt mit denen konkurrieren, die schon am wenigsten verdienen. Dann werden dort die Löhne weiter sinken oder unter Druck geraten, und das ist ein Problem, da brauchen wir Lösungen und über die Lösungen diskutieren wir gerade in der Partei. Ich denke, Sahra Wagenknecht ist ja nicht dagegen, dass wir hier Flüchtlinge aufnehmen, sondern dass wir eine vernünftige Politik bei der Zuwanderung betreiben, die dazu führt, dass auch die Menschen, die hier leben, vernünftig abgesichert sind und dass deren Einkommen und Existenz gesichert ist.
    Heckmann: Okay. – Über die sogenannten Gelbwesten in Frankreich und über die Frage, ob die ein Vorbild für Deutschland sein können, haben wir gesprochen mit Klaus Ernst, Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages. Er gehört der Linken an. Herr Ernst, danke Ihnen für das Gespräch und Ihnen einen schönen Tag!
    Ernst: Danke schön! Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.