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Proteste in Hongkong
"Das Versprechen direkter Wahlen gibt es gar nicht"

Die Protestierenden in Hongkong berufen sich auch auf eine angebliche Zusage Chinas, freie und direkte Wahlen zuzulassen. Doch dieses Versprechen gebe es gar nicht, sagte die Sinologin Heike Holbig im Deutschlandfunk. Sie rechnet nicht mit einer Eskalation - dies könne sich China nicht leisten.

Heike Holbig im Gespräch mit Anne Raith |
    Demonstranten in Hongkong.
    Demonstranten in Hongkong (AFP / Alex Ogle)
    Hongkong sei schon als britische Kronkolonie in keiner Weise demokratisch gewesen, sagte Holbig. Vielmehr sei es das höchst erfolgreiche kapitalistische Wirtschaftsmodell gewesen, das vor zuviel demokratischer Einflussnahme geschützt werden sollte, da diese die Effizienz des Modells bedroht hätte. Erst die blutige Niederschlagung der Tiananmen-Proteste 1989 habe in der Hongkonger Bevölkerung das Bedürfnis geweckt, sich gegen mögliche Übergriffe der künftigen souveränen Macht Peking zur Wehr zu setzen.
    "Da gab es dann erste Versuche, ein hohes Maß an Autonomie zu garantieren, indem sehr halbherzig demokratische Verfahren in Betracht gezogen wurden", so Holbig. Das Basic Law, dass seit dem Souveränitätsübergang das Grundgesetz Hongkongs bilde, spreche nur sehr vage von der Möglichkeit, im Bedarfswahl allgemeine Volkswahlen zum Regierungschef zuzulassen.
    Eine Wiederholung der Ereignisse von 1989 erwartet die Sinologin nicht. Peking könne sich eine Eskalation nicht leisten - unter anderem, weil man immer wieder versuche, Taiwan eine friedliche Wiedervereinigung unter dem in Hongkong propagierten Modell "Ein Land, zwei Systeme" schmackhaft zu machen. Außerdem sei nicht damit zu rechnen, dass die Proteste auf andere Teile Chinas übergreife, dafür seien die Ziele zu unterschiedlich: Möglichen Protestgruppen auf dem Festland würde es "zu weit gehen, freie Wahlen des Staats- und Parteichefs zu fordern". Peking werde die Proteste daher wahrscheinlich aussitzen, eventuell kleine Konzessionen machen - am Prinzip der handverlesenen Kandidaten für die Wahl des Hongkonger Regierungschefs aber aufrecht erhalten.

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Anne Raith: "Wir glauben nicht, dass wir die Regierung mit unseren Worten überzeugen können. Die Regierung ist nur zu Zugeständnissen bereit, wenn sich Unruhe in der Gesellschaft breitmacht", glaubt Joshua Wong. Und so hat der 17-Jährige dafür gesorgt, dass die Regierungen in Hongkong und Peking diese Unruhe spüren. Er ist eines der prominenten Gesichter des Aufstandes in Hongkong. Bislang aber hat die Regierung nicht mehr als Gespräche angeboten. Gespräche, die die Studenten zwar bereit sind zu führen, die ihnen aber eigentlich nicht weit genug gehen. Die Probleme, die dort nun verhandelt werden, sind nicht neu. Und auch die Auseinandersetzungen über freie Wahlen beschäftigen Hongkong eigentlich schon seit Jahren, sagt Professorin Heike Holbig vom GIGA-Institut für Asien-Studien in Hamburg, mit der wir nun über die Lage vor Ort sprechen möchten.
    - Und doch, sagt sie, haben sie die Entwicklungen der vergangenen Tage überrascht.
    Heike Holbig: Ja, das muss ich ganz klar eingestehen, dass ich eine derartige Mobilisierungsdynamik nicht erwartet habe. Vor dem Hintergrund dessen, was man nicht wirklich so darstellen kann, wie es oft in der medialen Berichterstattung aussieht, dass nämlich Peking ein Versprechen nicht eingehalten habe. Ein Versprechen, dass ab 2017 der Regierungschef von Hongkong frei und direkt gewählt werden darf. Dieses Versprechen gibt es gar nicht in dieser Hinsicht, wenn man so ein bisschen zurückschaut in die Geschichte. Hongkong war als britische Kronkolonie in keiner Weise demokratisch, sondern es war so das höchst erfolgreiche kapitalistische Wirtschaftsmodell, das geschützt werden sollte geradezu vor zu viel Einflussnahme demokratischer Stimmen, die die Effizienz dieses von der Exekutive dominierten Systems nur beeinträchtigt hätte. Und es war eigentlich erst mit der gewaltsamen Niederschlagung der Tian'anmen-Proteste im Sommer 1989, dass ein Bedürfnis entstand in der Hongkonger Bevölkerung, sich gegen Übergriffe der zukünftigen souveränen Macht Pekings zur Wehr zu setzen. Und da kamen so dann erste Versuche, einen hohen Grad an Autonomie zu garantieren, indem aber insgesamt doch sehr halbherzig demokratischen Verfahren vage in Betracht gezogen wurden. Und das Basic Law, das bei dem Souveränitätswechsel '97 das Grundgesetz bildete für Hongkong und bis heute auch bildet, spricht nur sehr, sehr vage und zurückhaltend von einer Möglichkeit, im Bedarfsfall ab 2007, so hieß es damals, frühestens ab 2007 allgemeine Volkswahlen zum Regierungschef zuzulassen.
    Raith: Das heißt, Sie interpretieren das Versprechen als Wunsch jener, die jetzt auf die Straße gehen?
    Holbig: Ja. Das ist ein Wunsch, der sich wiederum ganz klar ergibt aus einer sehr ausgeprägten Protestkultur in Hongkong seit '89. Und es ist eine seit Langem bestehende Gruppe von Demokraten, die sich alle identifizieren über diese Zäsur 1989, diese Proteste, die weltweit durch die Medien gegangen sind, die dann niedergeschlagen wurden auf dem Tian'anmen-Platz. Es ist aber bezeichnend, dass neben diesen Veteranen sich jetzt eine junge Generation die Bahn bricht, die sich dadurch auszeichnet, dass sie Tian'anmen '89 gar nicht persönlich erlebt hat. Man könnte sagen, um so naiver gehen die daran. Umgekehrt könnte man auch behaupten, dass sich dadurch, dass die Leute so jung sind, Tian'anmen '89 besonders als so ein Symbol, eine Ikone demokratischer Proteste verwenden lässt, in die sich dann die lokalen Aktivisten einschreiben.
    Raith: Was bewegt denn diese junge Generation, Schüler, Studenten – ist das allein der Wunsch nach mehr Demokratie, nach mehr Freiheiten?
    Holbig: Also ganz allgemein würde ich da noch andere Gründe vermuten. Es gibt auf jeden Fall eine Unzufriedenheit mit der sozialen Ungleichheit, die weit verbreitet ist, die auch zugenommen hat. Korruption, das, was in Hongkong seit Langem Tycoon-Elite-Herrschaft heißt, also die enge Verflechtung großer Unternehmer dann auch zunehmend mit dem chinesischen Festland und der dortigen unternehmerischen Elite. Dann Einschränkungen der Pressefreiheit seit '97, seit dem Souveränitätswechsel. Es gab 2012 auch einen Versuch der chinesischen Regierung, in Hongkonger Schulen sogenannten patriotischen Unterricht einzuführen. Und um diesen Versuch herum hat sich dann eine Gruppe von Aktivisten, eigentlich Schüler und Studenten und deren Eltern gebildet, auch einige Professoren dabei, auf die die heutigen Proteste so zurückgehen. Die waren nämlich 2012 erfolgreich, diesen Versuch einer patriotischen Erziehungskampagne in Hongkong abzuwenden.
    Raith: 2012 waren die Proteste erfolgreich. Wie schätzen Sie diesen Protest nun ein? Wie ernst ist das Problem Hongkong für China, und was bedeutet das in der Konsequenz eben für die Proteste?
    Holbig: Es wurde in den letzten Tagen viel diskutiert, ob man sich sorgen müsse um eine Wiederholung dessen, was wir 1989 gesehen haben, dass ein Blutbad entstehen könnte. Dieser Vergleich, der drängt sich einfach auf. Und eine ganz leise latente Sorge gibt es, glaube ich, bei allen, die so ein bisschen diese Zeit erlebt haben. Aber ich halte es andererseits für sehr unwahrscheinlich, dass Peking in so einer Weise reagieren könnte, weil einfach zu viel auf dem Spiel steht. Die Frage ist, könnte der Funke überspringen auf das Festland? Funken, würde ich sagen, ja, aber einen Flächenbrand kann ich mir nicht vorstellen, weil einfach die Agenda derjenigen, die auf dem Festland dafür empfänglich sein könnten, eine andere ist. Es würde denen viel zu weit gehen, freie Wahlen zum Staats- und Parteichef zum Beispiel zu fordern. Und dann sind auch die Repressalien in der Hand der chinesischen Regierung zu omnipräsent, um da einen Flächenbrand, denke ich, zuzulassen. Und andererseits geht es ja zugleich für Peking auch um das Modell "ein Land, zwei Systeme", was besonders an Taiwan adressiert ist. Immer wieder, und jetzt auch kürzlich, hat Xiping der taiwanesischen Seite noch mal schmackhaft gemacht, eine friedliche Wiedervereinigung anzustreben unter diesem Modell, "ein Land, zwei Systeme", was in Hongkong vorgelebt werden soll. Das heißt, auch in Hinblick auf Taiwan kann es sich die chinesische Seite meines Erachtens nicht wirklich leisten, eskalierend vorzugehen.
    Zehntausende Menschen demonstrieren in Hongkong für mehr Demokratie.
    Zehntausende Menschen demonstrieren in Hongkong für mehr Demokratie. (AFP / Xaume Olleros)
    Raith: Was heißt das denn im Umkehrschluss für die Protestierenden in Hongkong?
    Holbig: Was das Problem ist, dass die Eigendynamik dieser Occupy-Mobilisierung zu massiven Provokationen führt. Dass man nicht den Finanzdistrikt nur besetzt, sondern auch die Regierungsgebäude. Nebenan ist die Garnison der Volksbefreiungsarmee, da sitzen die Soldaten Pekings. Es ist alles ein sehr riskantes Spiel. Und das macht, glaube ich, die Sorge, aber auch den Hype dieser Bewegung aus. Man muss sich aber, glaube ich, vor allem gefasst machen auf eine Strategie Pekings, die heißt, wir versuchen, das auszusitzen. Denn eskalieren möchte man die Lage nicht, wenn es nicht anders geht. Und jetzt sind die Jahrestage vorbei – der 4. Juni, Tian'anmen-Jahrestag ist vorbei, der 1. Juli, der Jahrestag des Souveränitätswechsels ist vorbei, und der 1. Oktober ist nun auch vorbei, der Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China. Das heißt, es gibt jetzt erst mal keine neuen symbolischen Anlässe aus chinesischer Sicht, die das Ganze weiter eskalieren lassen könnten. Und ich denke, dass die Strategie die des Aussitzens ist. Kleinere Konzessionen bei einem Neuaufrollen der Debatte um das Wahlverfahren bis 2017 wären vielleicht auch denkbar, aber an dem Prinzip, dass Peking handverlesene Kandidaten möchte und nicht jemanden, der von vornherein als Demokrat Opposition macht, das wird sicher aufrechterhalten bleiben.
    Raith: Die Politikwissenschaftlerin Heike Holbig vom GIGA-Institut für Asien-Studien in Hamburg über die anhaltenden Proteste in Hongkong, ihre Hintergründe und mögliche Szenarien für die Zukunft.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.