Putin sagte bei einer Videokonferenz eines von Moskau geführten Militärbündnisses, Kasachstan sei das Ziel von „internationalem Terrorismus“ geworden. Der kasachische Präsident Tokajew bezeichnete die gewaltsamen Proteste in seinem Land als „versuchten Staatsstreich“ und betonte, auf friedliche Demonstranten würden die Sicherheitskräfte niemals schießen. Zuvor hatte Tokajew mit einem Schießbefehl international für Empörung gesorgt. Ausgangspunkt der Proteste war Unmut über die Verdopplung der Preise beim Autogas – das in Kasachstan etwa den Stellenwert von Dieselkraftstoff hierzulande hat. Von der Stadt Schangaösen im Westen der ehemaligen Sowjetrepublik breiteten sich die Unruhen im ganzen Land aus und schlugen in teils gewaltsame Proteste gegen die Regierung um. Schwerpunkt der Ausschreitungen ist inzwischen die ehemalige Hauptstadt und Wirtschaftsmetropole Almaty im Südosten des Landes. Dort und offenbar auch in anderen Städten gehen Polizei und Militär gewaltsam gegen Demonstranten vor.
Mittlerweile sollen etwa 2.000 Menschen festgenommen worden sein (Stand 6. Januar). Wie die kasachische Nachrichtenagentur Tengrinews unter Berufung auf die Polizei berichtete, dauerten die Festnahmen an.
Der Präsident des autoritär geführten Landes hatte zuvor bereits die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), ein von Russland geführtes Militärbündnis, um Unterstützung – und umgehend eine Zusage erhalten. Nach Angaben der OVKS wurden unter anderem russische Fallschirmjäger als Teil einer „Friedenstruppe“ entsandt. Das Verteidigungsministerium in Moskau veröffentlichte ein Video und Bilder, wie bewaffnete Soldaten Flugzeuge bestiegen.
Was treibt die Proteste an?
Entfacht wurden die Proteste von den Preissteigerungen von Autogas, die Motive der Demonstranten dürften aber inzwischen heterogener geworden sein, sagte der Politikwissenschaftler Sebastian Schiek am 6.1.2022 im Deutschlandfunk. Wirtschaftliche Probleme seien dabei eine Hauptmotivation, auf den Straße zeige sich aber auch eine große politische Unzufriedenheit. Diese richte sich insbesondere gegen den ehemaligen Präsidenten Nursultan Nasarbajew, der zwar 2019 offiziell zurückgetreten sei, aber im Hintergrund weiter die Fäden in der Hand gehalten habe. "Für viele der Protestierenden ist er der Verantwortliche für die ausbleibenden politischen und wirtschaftlichen Reformen", sagte Schiek.
Dass die Proteste so schnell eskalierten, sei für Kasachstan sehr ungewöhnlich, sagte Schiek. Die Kasachen hätten in den vergangenen fünf Jahren zwar viel protestiert, aber meist kreativ und friedlich. Die sehr schnelle Eskalation durch einige Protestgruppen könne auch im Zusammenhang mit einem Machtkampf innerhalb der Elite stehen, das müsse man in den kommenden Wochen weiter beobachten.
Politikwissenschaftler Sebastian Schiek: Eskalation der Proteste für Kasachstan ungewöhnlich (6.1.2022)
Was ist die OVKS?
Die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit wurde am 7. Oktober 2002 gegründet. Dem Bündnis gehören neben Russland und Kasachstan auch Armenien, Belarus, Kirgisistan und Tadschikistan an. Zu den Gründungsmitgliedern zählten zudem die Ex-Sowjetrepubliken Aserbaidschan, Georgien und Usbekistan. Zweck der OVKS ist laut ihrer Charta die Stärkung des Friedens und der internationalen und regionalen Sicherheit und Stabilität sowie die Gewährleistung der Sicherheit, Souveränität und territorialen Integrität der Mitgliedstaaten.
Als weitere Aufgaben nennt die Charta ausdrücklich die Bekämpfung des internationalen Terrorismus und Extremismus sowie des illegalen Drogen- und Waffenhandels und der organisierten grenzüberschreitenden Kriminalität. Oberstes Direktivorgan ist der Rat für kollektive Sicherheit, der aus den jeweiligen Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten besteht. Das OVKS-Sekretariat hat als einziges permanent arbeitendes Organ seinen Sitz in Moskau. Generalsekretär ist seit Januar 2020 der belarussische General und Politiker Stanislav Zas.
Die OVKS betont zwar die multilaterale politische und militärische Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten, sie wird jedoch eindeutig von Russland dominiert. Moskau nutzt die Organisation als Instrument für seine regionalen politischen und militärischen Interessen und zur Absicherung seiner Machtansprüche im eurasischen Raum. Das heißt: Bedeutsam innerhalb des Bündnisses ist vor allem die Beziehung zwischen Moskau und den anderen Mitgliedsländern. Für diese ist Russland unter anderem auch wichtigster Rüstungslieferant.
Mediale Aufmerksamkeit erregte die OVKS bislang nur mit gemeinsamen Militärmanövern wie etwa 2021 nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan an der tadschikisch-afghanischen Grenze. Dass ein Mitgliedsstaat wie jetzt Kasachstan um konkrete Bündnishilfe bittet, ist ein bisher einmaliger Vorgang. Der OVKS zufolge ist eine Hauptaufgabe der nach Kasachstan entsandten Soldaten der Schutz wichtiger staatlicher und militärischer Einrichtungen. Die "Friedenstruppen" seien auf begrenzte Zeit nach Kasachstan geschickt worden, "um die Lage zu stabilisieren und zu normalisieren", hieß es in einer Mitteilung.
Welche Bedeutung hat Kasachstan für Russland?
Die öl- und gasreiche Ex-Sowjetrepublik Kasachstan gilt nach Belarus als einer der wichtigsten Verbündeten Moskaus in der eurasischen Region. Alle drei Länder waren 2020 Gründungsmitglieder der Zollunion aus der 2015 die Eurasische Wirtschaftsunion hervorging. Dieser gehören nun auch Armenien und Kirgisistan an. Auch darüber hinaus unterhält Russland enge wirtschaftliche und politische Beziehungen zu dem neuntgrößten Land der Erde. Kremlchef Wladimir Putin und dem langjährigen kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew wird ein sehr vertrautes Verhältnis nachgesagt.
Obwohl Nasarbajew im März 2019 Kassym-Jomart Tokajew zu seinem Nachfolger als Präsidenten machte, kontrollierte der 81-Jährige bis zuletzt als Chef des nationalen Sicherheitsrats und „Führer der Nation“ die Politik des zentralasiatischen Landes. Bislang konnte sich Moskau auf die Führung seines südlichen Nachbarn verlassen.
Interview mit Dr. Beate Eschment, Zentralasienexpertin, zu Kasachstan (06.01.2022)
Kasachstan sei vom Kreml immer als stabiler Freund Russlands wahrgenommen worden, sagte Beate Eschment vom Zentrum für Osteuropa und internationale Studien im Dlf. Auch größere Proteste in der zweitgrößten Ex-Sowjetrepublik waren selten. Eschment vermutet, dass die aktuelle Entwicklung in Kasachstan die russischen Führung sehr nervös mache – zumal man mit dem Land eine rund 6.000 Kilometer lange Landesgrenze teile und „der Kreml schon immer ganz Zentralasien als eine instabil und potenziell Russland gefährdende Regionen betrachtet hat“.
Wie begründen die OVKS und Russland das Eingreifen in Kasachstan?
Der Kreml übernimmt die Argumentation des kasachischen Präsidenten, der äußere Einmischung für die Unruhen verantwortlich macht. „Wir betrachten die jüngsten Ereignisse in einem befreundeten Land als einen von außen inspirierten Versuch, die Sicherheit und Integrität des Staates auf gewaltsame Weise durch den Einsatz ausgebildeter und organisierter bewaffneter Formationen zu untergraben“, teilte das Außenministerium in Moskau mit. Russland bekenne sich zu seinen Verpflichtungen als Mitglied der OVKS.
Auch der derzeitige Vorsitzende der OVKS, Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan, erklärte, die Unruhen in Kasachstan seien durch "äußere Einmischung" ausgelöst worden. Zuvor hatte Tokajew "Terrorgruppen" vorgeworfen, hinter den Protesten zu stecken. Ausgebildet würden die Gruppen "im Ausland", sagte der kasachische Präsident im Staatsfernsehen. Die USA wiesen Berichte über mögliche Verwicklungen zurück.
Unklar ist aber auch, ob allein wirtschaftliche Gründe Auslöser der Proteste waren. Beobachter halten auch einen Machtkampf hinter den Kulissen zwischen Nasarbajew und Tokajew für möglich. Zumal Tokajew als Reaktion auf die Proteste die noch von seinem Vorgänger eingesetzte Regierung abgesetzt und auch den Posten an der Spitze des nationalen Sicherheitsapparats übernommen hat. Allerdings hatte Nasarbajew im November 2021 angekündigt, zeitnah die Parteiführung an Tokajew abgeben zu wollen.
Jürgen Hardt (CDU): Friedliche Entwicklung unter der jetzigen Herrschaft nicht möglich (7.1.2022)
Was bedeutet der Einsatz russischer Soldaten in Kasachstan?
Beate Eschment vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien zeigte sich von Tokajews Schritt überrascht, russische Truppen ins Land zu bitten. Denn trotz der engen Verbindung zu Russland habe man in Kasachstan seit der Unabhängigkeit 1991 „immer gefürchtet, dass Russland Ansprüche auf kasachisches Territorium erheben könnte, dass Russland die Staatlichkeit Kasachstans irgendwie nicht anerkennen könnte“.
Diese Stimmung sei in der Bevölkerung noch immer weit verbreitet. Mit dem Schritt, russische Truppen ins Land zu holen, könnte Tokajew weitere Teile der Bevölkerung gegen sich aufbringen, die die Protesten bislang vielleicht noch ambivalent beobachtet haben, vermutet Eschment.
Der Politikwissenschaftler Sebastian Schiek (6.1.2022) sieht die Bitte nach russischen Truppen als "Zeitenwende". Kasachstan habe trotz der engen wirtschaftlichen und politischen Partnerschaft mit Russland immer auch eine Distanz aufrechterhalten gehalten und auf Unabhängigkeit gepocht. Dass ein Präsident russische Truppen ins Land holen würde, habe er sich nicht vorstellen können.
Journalistin Edda Schlager über die Kommunikationswege nach Kasachstan (6.1.2021)
Quellen: Dlf, dpa, afp, pto