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Proteste in Kolumbien
Der Fußball rollt - noch

Soziale Ungleichheit, Korruption und Polizeigewalt: Seit fast drei Wochen demonstrieren die Menschen in Kolumbien gegen Missstände. Aus der Welt des Sports gab es zahlreiche Solidaritätsbekundungen. Aber trotz der Kritik werden die internationalen Wettbewerbe fortgesetzt. Und die Copa América steht direkt vor der Tür.

Von Viktor Coco |
Seit Wochen herrschen in Kolumbien Massenproteste. Es geht um steigende Lebensmittelpreise, aber auch um Polizeigewalt.
Seit Wochen herrschen in Kolumbien Massenproteste. Es geht um steigende Lebensmittelpreise, aber auch um Polizeigewalt. (dpa / picture alliance / Gustavo Adolfo Delvasto Daza)
Schweigeminute für Corona-Opfer vor dem Copa-Libertadores-Duell zwischen Junior de Barranquilla und River Plate.
Doch was man in der kolumbianischen Hafenstadt hört sind Explosionen vor den Stadiontoren: Polizisten feuern Schreckschüsse und Gummigeschosse auf Demonstrierende. In der 22. Minute wird das Spiel gar unterbrochen, weil Tränengas auf das Feld geweht wird und Spieler und Betreuer sichtbar beeinträchtigt.

"Warum mangelt es dem Fußball an Mitgefühl?"

Diego Latorre, Ex-Profi und Co-Kommentator des in ganz Südamerika übertragenden Senders ESPN, äußerst sich live: "Man muss hinterfragen, warum es dem Fußball an Mitgefühl mangelt. Für das, was vor dem Stadion passiert und für die derzeitige Lebensrealität der Kolumbianer."
Nach dem Spiel sagt der Trainer der argentinischen Gäste, Marcelo Gallardo: "Es ist nicht normal, ein Fußballspiel unter solchen Umständen auszutragen, die für das kolumbianische Volk so ungewiss sind. Das sind anormale Bedingungen und da können wir nicht einfach wegschauen."

Kolumbien mit einer der größten Ungleichheit weltweit

Auch andere Duelle im Land mussten wegen Protesten mehrfach unterbrochen werden und standen kurz vor dem Abbruch. In der Vorwoche hatte man Copa-Libertadores-Spiele gar ins Ausland verlegt. Derweil sprach sich die Spielervereinigung der nationalen Liga für eine Saisonunterbrechung aus.
Die Fangruppen begleiten die Proteste in Kolumbien mit Musik
Die Fangruppen begleiten die Proteste in Kolumbien mit Musik (Comunicaciones Barón Rojo Sur)
Kolumbien gehört zu den Nationen mit der größten Ungleichheit auf der Welt, mehr als 40 Prozent leben unter der Armutsgrenze. Eine angekündigte Steuerreform brachte das Fass zum Überlaufen. Seitdem wüten Proteste. Über 40 Menschen starben - mehrheitlich durch Polizeigewalt.
In der Millionenstadt Cali war die Repression besonders heftig, berichtet Andrés Barrios, Sprecher von Barón Rojo Sur. der größten Fanorganisation des Landes. "Das glich einem Massaker. Nachts war plötzlich der Strom in den Straßen weg. Und dann gingen die Schüsse los. Es kamen LKW mit bewaffneten Polizisten in Zivil. Und noch immer gibt es Vermisste."

Das Leben ist wichtiger

Etwa 12.000 Fans vereint die Ultra-ähnliche Gruppe, die täglich eine Volksküche für über 150 Bedürftige bewirtschaftet. Die Demos führen sie nicht an, begleiten sie aber mit Musikern oder einer Gruppe von Menschenrechtsbeobachter'innen. Ihre Haltung zur Aufrechterhaltung des Spielbetriebes ist eindeutig.
"Unsere Position ist, dass der Fußball unbedingt ausgesetzt werden muss. Denn das Leben ist wichtiger. Wir können nicht all das, was passiert mit einer vermeintlichen 'Show' verdecken."
Ähnliches hört man in Medellín; wie von diesem Fan im Trikot von Atlético Nacional auf einer Demonstration.
"Die Proteste sind wichtiger. Der Fußball rückt in den Hintergrund. Die Libertadores kann gern woanders weiter gehen. Aber hier nicht. Und auch die Copa América sollte nicht hier in Kolumbien stattfinden. Die soll Argentinien mit einem anderen Land austragen. Aber hier nicht - wegen all dem was passiert ist."

An der Copa América liegt Kolumbien viel

In vier Wochen sollen Messi, Neymar und Co. in Kolumbien den Südamerikameister ausspielen. Geplant war die Copa América ursprünglich im vergangenen Jahr. Zwischendurch rechnete Südamerikas Fußball-Verband CONMEBOL gar mit Fans in den Stadien. Vor ein paar Wochen wäre dann wegen hoher Infektionszahlen fast Co-Gastgeber Argentinien ausgestiegen. Aber Ramón Jesurún, Präsident der kolumbianischen Föderation und CONMEBOL-Vize, zeigt sich im Interview bei Antena2 unbeirrt.
Impfstoff des Unternehmens Sinovac Biotech. Das Mittel wird zurzeit in der 3. Phase getestet.
Vor der "Copa America" - CONMEBOL erhält 50.000 Impfdosen von Sinovac
Der südamerikanische Fußballverband will vor der Kontinentalmeisterschaft im Juni alle Beteiligte mit chinesischem Impfstoff versorgen, während es in den Bevölkerungen ein Impfdefizit gibt.
"Also bis jetzt sind wir weiter standhaft und werden das Turnier austragen. Die Vorbereitungen laufen. Ich glaube aber, dass ein paar Dinge erklärt werden müssen, vor allem finanzielle Aspekte. Denn da wurde innerhalb dieser sozialen Probleme viel erzählt: Die Copa América kostet das Land keinen Cent, weder die Regierung, noch den nationalen Verband! Sie wird vollständig von der CONMEBOL und ihren Sponsoren finanziert."
Der Kontinentalverband hatte zuletzt 50.000 Dosen der chinesischen Sinovac-Impfung zugesichert bekommen, um die Durchführung zu garantieren. Die Fürsprecher der Austragung im Land sehen derweil eine historische Chance schwinden. Mal wieder. 2001 trug man einmalig eine Copa América aus, aber es wütete die Gewalt der Drogenkartelle. Einige Verbände sagten ab, das Turnier verblasste.
Und auch die WM 1986, die Argentinien mit Maradona gegen Deutschland gewann, war ursprünglich in Kolumbien geplant und musste wegen Finanzierungsproblemen verlegt werden.
"Das hat man uns in der FIFA bis heute nicht verziehen. Wir sind das einzige Land auf der Welt, das von der Austragung eines so großen Turniers zurückgetreten ist."
Nun hat sich auch die nationale Spielervereinigung zu Wort gemeldet und sich bedingungslos mit den Forderungen des kolumbianischen Volkes solidarisiert. "Auch wir wünschen uns ein gerechteres, inklusives Land", heißt es. Sie fordern, die ausstehenden Spiele der kolumbianischen Meisterschaft bis auf weiteres auszusetzen.